Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Vor den Fenstern und entlang der Wände standen mehrere Nähmaschinen unterschiedlichen Alters. Einige standen auf Arbeitstischen, die sie sich mit Schnittmustern und Stoffballen teilten, andere besaßen eigene Gestelle mit Fußpedalen. Das älteste Stück war aus Holz und lackiertem Metall gefertigt und musste bereits vor Madame Guimards Geburt in Gebrauch gewesen sein.
Staunend drehte Sophie eine Runde durch den lichtdurchfluteten Raum. Zwischen den Nähmaschinen standen Schneiderpuppen, die Kleidung in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung trugen, und an den Wänden hingen zahlreiche gerahmte Fotos und Ausschnitte aus Zeitschriftenartikeln. Auf einigen Bildern erkannte sie Madame Guimard, jedoch nie allein, sondern stets neben anderen, auffallend gut gekleideten Menschen. Einige Gesichter kamen ihr nur vage bekannt vor, andere konnte sie sofort zuordnen. Cathérine Deneuve, Alain Delon, Romy Schneider, Jean-Paul Belmondo, alles, was in den 60er- und 70er-Jahren im französischen Kino Rang und Namen hatte, war auf den Fotos vertreten.
»Ist das etwa Audrey Hepburn?«, erkundigte sie sich verblüfft und deutete auf ein Bild, das eine grazile Frau mit Rehaugen zeigte.
»Ja, sie war damals zu den Dreharbeiten von Charade in Paris«, erklärte Madame Guimard mit einem versonnenen Lächeln. »Ich war zwar nicht an den Kostümen dieser Produktion beteiligt – sie trug damals in ihren Filmen ausschließlich Kleider von Givenchy –, aber sie brauchte dringend ein neues Kleid für einen Empfang, und eine Nebendarstellerin schickte sie zu mir, um sich auf die Schnelle etwas nähen zu lassen.«
»Das waren alles Ihre Kunden?« Und ich dachte, sie sei nur die Witwe irgendeines wohlhabenden Beamten oder Geschäftsmanns …
Madame Guimard wiegte den Kopf. »Manche ja, manche nein. Einige kamen auch als Privatkunden zu mir, während ich andere nur für den jeweiligen Film einkleiden durfte. Ich war immer in erster Linie Kostümschneiderin, aber nebenher habe ich mir mit kleinen Aufträgen etwas dazuverdient. Das lief recht gut. Durch Mundpropaganda haben einige Damen – und der eine oder andere Herr – der besseren Gesellschaft zu mir gefunden.«
»So wie Madame Clément«, folgerte Sophie und konnte nicht widerstehen, über einen durchscheinenden, rotbraunen Seidenstoff zu streichen, der auf einem der Tische ausgerollt lag. Er fühlte sich längst nicht so glatt an, wie die schimmernde Oberfläche versprach, doch dafür wurde er unter ihren Fingern sofort unerwartet warm.
»Ja, Madame Cléments Mutter kam auf Empfehlung von Simone Signoret zu mir.« Madame Guimard wies auf ein Foto über der ältesten Nähmaschine, die ein wenig muffig nach altem Holz und Schmieröl roch.
Sophie fiel auf, dass weder die Kleidung der meisten Schauspieler auf den Bildern noch jene, die unfertig an den Schneiderpuppen hing, der Mode ihrer jeweiligen Zeit entsprach. Fast alle erinnerten sie viel mehr an Fotos oder Filme aus den 20er- und 30er-Jahren, als die Männer noch Hüte wie Indiana Jones getragen hatten und die Frauen nur dann in Hosen geschlüpft waren, wenn sie sich auf abenteuerliche Reisen wagten. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Zeit mehr Stil gehabt hatte als die Gegenwart mit ihren ausgebeulten Hosen und dem gammeligen »used look«. Aber lieber mal gammelig in Jeans und Turnschuhen als jeden Tag im adretten Kleid … »Und Sie schneidern immer noch?«, erkundigte sich Sophie mit einem Blick auf Madame Guimards sehr schlanke Hände, die die Jahre faltig und fleckig gemacht hatten.
»Ich habe einen kleinen Laden, aber ich nähe nicht alles selbst, was ich dort verkaufe. Meine Nichte hilft mir, und manches kaufe ich zu. Zum Beispiel die Hüte. Es ist sehr schön, wenn die Menschen Freude an den Dingen haben, die sie bei mir finden, deshalb höre ich nicht damit auf. Aber die Treppen machen es mir immer schwerer, mein Geschäft selbst zu führen, und Sandrine kann mir nicht alles abnehmen. Deshalb habe ich mich gefragt, ob du vielleicht als Aushilfe bei mir arbeiten möchtest, bis du eine andere Stelle gefunden hast.«
»Äh, ich … ja, ja, natürlich!«, stammelte Sophie erfreut. »Vielen Dank! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weil ich bald eine Lücke im Lebenslauf haben könnte. Das macht sich nicht gut, wissen Sie?« Sie konnte es noch nicht ganz glauben und wäre Madame Guimard am liebsten um den Hals gefallen, aber dazu wirkte die alte Dame doch zu unnahbar. Manchmal lösten sich
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