Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
recht, chérie. Hier fehlt ein bisschen frischer Wind. Ich bin einfach zu alt, um diese Dinge zu sehen, und Sandrine hat so wenig Zeit. Wir sollten gleich anfangen! Hinten habe ich Staubwedel und Putzlappen.« Sie verschwand in das vollgestopfte zweite Zimmer, das als Abstellkammer, Umkleidekabine und Büro zugleich diente.
Grinsend wandte sich Sophie den Schaufenstern zu. Die hatten es wirklich dringend nötig, mal wieder geputzt zu werden. Um an die Scheiben heranzukommen, würde sie zunächst die Dekoration wegräumen müssen. Behutsam griff sie nach einer Taschenuhr, die so stilecht aussah, dass sie nicht sicher war, ob es sich um ein gebrauchtes Original aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts oder um eine Replik handelte.
Eine Bewegung auf der Straße lenkte ihre Aufmerksamkeit hinaus. Ein Auto fuhr vorüber, und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig gingen ein Mann und eine Frau vorbei. Die beiden waren sichtlich in ein Gespräch vertieft. Vermutlich nahmen sie nicht einmal das Schaufenster wahr, geschweige denn Sophie, die hinter der Auslage stand. Die blonden Locken der langbeinigen Schönheit umspielten die Schultern wie ihr Kleid die perfekten Formen ihres Körpers. Meine Güte, warum bist du eifersüchtig auf Rafe, wenn du so eine Frau um dich hast?, fragte sie sich, denn der Mann, dem diese Göttin gerade ein Lächeln schenkte, war Jean.
Gereizt strich Sophie den letzten Satz und starrte feindselig auf ihre Bewerbung. Mit dieser Formulierung würde sie es nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch bringen, so viel war sicher. »Oh, là, là«, ließ sich Madame Guimard vom anderen Ende des Tischs vernehmen, wo sie Kartoffeln für das Abendessen schälte. »Wenn ich das Papier wäre, bekäme ich jetzt Angst.«
Sophie rang sich ein schiefes Lächeln ab und versuchte, sich auf ihren Text zu konzentrieren. Doch sie war müde, und zudem gärte es in ihr. Je weiter sich der Tag dem Abend zuneigte, desto mehr ärgerte sie sich über Jean, weil er verhindert hatte, dass sie sich vor der Tür noch mit Rafe verabreden konnte, während er seine Zeit mit einem Model verbrachte. Auch Rafe zürnte sie, weil er sie offenbar noch nicht vermisste – und sie war wütend auf sich selbst, weil sie hier saß und sich nach ihm verzehrte. Vor Sehnsucht wäre sie am liebsten losgezogen, um ihn mit einem Besuch zu überraschen, aber ihr Stolz riet ihr dringend davon ab. Dieser neue Rafe nahm ihre Zuneigung so selbstverständlich, dass sie ihm nicht noch mehr nachlaufen wollte. Während ihr Rafael stets so unsicher gewesen war, ob sie ihn wirklich liebte, dass sie ihn mit solchen Gesten hatte glücklich machen können, machte der neue den Eindruck, er könnte sie als Klette empfinden, wenn sie sich nicht zurückhielt.
Das alles war so merkwürdig und anstrengend, und sie hatte keine Ahnung, wo es hinführen sollte. Ließ er sich eigentlich ärztlich behandeln? Zu gern hätte sie mit einem Arzt darüber gesprochen, ob eine Chance bestand, dass die Erinnerungen doch noch zurückkehrten. Aber so, wie er sich gab, und bei den zwielichtigen Gestalten, mit denen er sich traf, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er brav im Wartezimmer einer Praxis herumsaß. Am Vorabend hatte er ihr auf dem Weg an der Seine entlang noch ein paar Fragen über ihre Beziehung gestellt. Wie lange sie sich schon kannten. Seit wann sie verlobt waren. Über seine Familie oder seinen Beruf hatte er kein Wort verloren. Man vermisst nur, woran man sich erinnert. Und er erinnerte sich auch nicht an sie. War es im Grunde nur ein Glücksfall, dass er sie überhaupt attraktiv fand? Ebenso gut hätte er sich bereits in eine andere Frau verliebt haben können, bevor sie ihn wiedergefunden hatte.
»Hast du heute noch etwas vor?«, erkundigte sich Madame Guimard mit einem Blick auf die halb durchsichtige Bluse, die Sophie für den Fall angezogen hatte, dass Rafe vorbeikam und mit ihr ausgehen wollte. Für ein Kleid sah es zu sehr nach Regen aus. Sie hatte sich lieber für Jeans entschieden, auf die auch die Jacke besser passte.
»Ich weiß es noch nicht.« Sie hoffte, ihr Ton würde deutlich machen, dass sie nicht darüber reden wollte.
»Sieht er gut aus, der Mann, mit dem du dich triffst?«, fragte Madame Guimard, ohne von den Kartoffeln aufzusehen.
»Ja, sehr«, sagte sie so nachdrücklich, dass sie darüber errötete.
»Mehr ein Yves Montand oder ein Alain Delon?«
»Hm, also eigentlich mehr …« Sie schnellte vom Stuhl wie von einer
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