Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
sagen, wo sie gestern Abend gewesen war? Nachdem sie sich im Streit getrennt hatten, konnte sie ihm nicht ausgerechnet am Telefon erzählen, dass sie die halbe Nacht bei dem Mann verbracht hatte, der schon einmal vor ihrer Tür gewartet und ihnen eine Szene gemacht hatte.
Sie entschied sich, lieber eine Nachricht zu tippen: »Tut mir leid, dass ich dich versetzt habe. Ich musste nachdenken. Können wir uns heute treffen? Sophie« Das Handy murrte nicht. Offenbar hatte es die SMS irgendwo hingeschickt, auch wenn sie nicht erfuhr, wie und an welche Nummer. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Sie wollte gerade die Rolle wieder ansetzen, als es hinter ihr piepste. Vor Hast rutschte ihr die Rolle fast in die Farbe. Die Rettung in letzter Sekunde bescherte ihr zwei weiße Fingerspitzen, die sie rasch an dem alten Kittel abwischte, den Madame Guimard ihr zum Streichen überlassen hatte. Die Nachricht würde nicht weglaufen, doch sie konnte nicht anders, als sie sofort zu lesen.
»Heute Abend habe ich zu tun. Komm doch jetzt in die Rue Thouin. Bin noch unterwegs, aber gleich bei dir. Rafe«
Sie entschied, dass die Wand noch bis zum Abend Zeit hatte, aber sie hätte lügen müssen, um zu behaupten, dass sie sich auf die Begegnung freute.
Er hatte keine Hausnummer genannt, doch Sophie sagte sich, dass sie am besten vor jener Tür wartete, durch die er schon einmal verschwunden war. Beim Anblick der Klingelschilder, die verglichen mit jenen an Jeans Eingang so schäbig und bunt zusammengewürfelt wirkten, erinnerte sie sich daran, wie sie vorgehabt hatte, sich zu Rafe durchzufragen. Was für ein Glück, dass ihr diese peinliche Aktion erspart geblieben war! Doch etwas an den Schildern erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah genauer hin. Das oberste war neu, zu sauber und zu weiß, um älter als ein paar Tage zu sein. Jemand hatte per Hand einen Namen darauf geschrieben, aber der schwarze Filzstift war zu dick gewesen, sodass die Buchstaben eher einer Aneinanderreihung von Klecksen glichen. Dennoch versuchte sie, das Wort zu entziffern.
»Schön, dich zu sehen.«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt, und wandte sich zu ihm um. »Hi! Da bist du ja schon.«
Seine Augen funkelten auf ihre unwiderstehliche Weise, als er lächelte. Im grellen Sonnenlicht hatten sie die Farbe eines leuchtend blauen Himmels. »Ich hatte Angst, dass du mir wieder davonläufst, wenn ich dich zu lange warten lasse.«
Wie von selbst reckte sie sich seinem Kuss entgegen, doch sie gab sich ihren Gefühlen nicht mehr völlig hin. Dieses Mal würde sie sich weder von Schmeicheleien noch von Ausflüchten daran hindern lassen, mit ihm über seine Identität und ihre Zukunft zu reden.
»Lass uns raufgehen«, schlug Rafe vor.
Sie sah ihn überrascht an. »Du hast eine Wohnung?« Nach der Nacht im Jardin du Luxembourg und dem Gespräch mit Jean hatte sie nicht mehr daran geglaubt. Aber warum zeigte er sie ihr ausgerechnet jetzt, nachdem Jean behauptet hatte, er habe keine?
»So was Ähnliches«, unterbrach er ihre Gedanken und nahm ihre Hand, um sie ins Haus und die Treppe hinauf zu führen.
Ihre Schritte polterten hohl auf den knarrenden Stufen, die schon länger niemand mehr gebohnert oder gar lackiert hatte. Für die Größe des Hauses zweigten erstaunlich viele Türen vom Treppenhaus ab. Kochdunst und Kinderlärmen, Zigarettenqualm und Radiomusik drangen durch die Ritzen. Ein Fenster zur Straße stand weit offen, doch es kam nur noch mehr Gluthitze herein. Hatte Sophie geglaubt, in Jeans Haus sei es mit jedem Stockwerk heißer und stickiger geworden, so musste sie jetzt einsehen, dass die Luft dort noch angenehm frisch gewesen war. Als sie mit Rafe vor einer Tür unterm Dach ankam, hatte sie Schwierigkeiten zu atmen.
Er ließ ihr den Vortritt in ein großes Zimmer, das zur Hälfte aus einer Schräge bestand. Ein aufgespanntes Handtuch diente notdürftig als Jalousie vor dem einzigen Dachfenster. Es gab ein Waschbecken, das vor der ausgebleichten, geblümten Tapete kaum auffiel, aber keine Tür, die in einen weiteren Raum hätte führen können. Ein Doppelbett, ein Wäscheschrank, ein Klapptisch samt Stuhl und ein Kühlschrank, auf dem eine einzelne Herdplatte stand, stellten die gesamte Einrichtung dar.
Rafe musterte sie amüsiert. »Du musst nicht sagen, dass es dir gefällt.«
»Keine Sorge, werde ich nicht«, erwiderte sie, obwohl sie sich um einen Tonfall bemühte, der ihn nicht verletzte.
Weitere Kostenlose Bücher