Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
sagst, dass du dich heute nicht mehr mit ihm treffen wirst«, begann er mit neuem Ernst in der Stimme. »Aber du hast vor, es wieder zu tun, nicht wahr?«
Ihr wurde klar, dass sie bis zu diesem Augenblick nicht daran gezweifelt hatte. »Ja, ich liebe ihn, und ich will ihm helfen, zu seinem alten Leben zurückzufinden.«
»Sophie.« Er beugte sich vor und sah sie beinahe so intensiv an wie Rafe. »Rafael Wagner ist tot. Er kommt nicht wieder zurück, sosehr du das auch willst.«
»Er ist zurückgekommen, und das muss einen Sinn haben«, beharrte sie und wollte aufstehen, doch Jean erhob sich schneller.
»Warte!«, forderte er mit einer energischen Geste, die sie auf dem Sessel hielt. »Du willst handfestere Beweise? Dann zeige ich sie dir. Aber ich warne dich. Das ist kein schöner Anblick.« Rasch verließ er den Raum.
Sie war zu verblüfft, um sich zu rühren. Wovon redete er? Dieses Mal konnte er keine Bibelzitate meinen. Gespannt lauschte sie auf seine Schritte. Er kam zurück ins Zimmer gestürmt, knipste eine antike Stehlampe an und reichte Sophie ein steifes Blatt Papier. Geblendet blinzelte sie das Bild an, das ein Farbausdruck eines Fotos zu sein schien. Ein junger Mann war darauf zu sehen, dunkelhaarig, in einer schwarzen Lederjacke. Seine Augen starrten weit aufgerissen ins Nichts. Obwohl die Abbildung nur klein war, ließ der Blick ihre Kehle eng werden. Hinter Rissen oder Schnitten in seinen Kleidern klafften tiefe Wunden. Blut glänzte darin und im Stoff seines Hemds, das sich vollgesogen haben musste.
»Wer ist das?«, brachte sie würgend heraus, ohne aufzusehen.
»Das ist der Mann, der versucht hat, mich davor zu warnen, dass irgendetwas sehr Übles vor sich geht. Ob es dir gefällt oder nicht: Ich habe Grund anzunehmen, dass es mit dem vermeintlichen Rafael und dir zu tun hat.« Er nahm ihr das Bild weg, als merke er, dass sie den Blick sonst nicht davon lösen konnte.
Entsetzt sah sie zu ihm auf. »Willst du damit sagen, Rafe habe …« Die Vorstellung raubte ihr die Sprache.
»Nein, nicht direkt. Der Mann hat sich selbst so zugerichtet, aber irgendjemand muss ihn dazu gebracht haben, und ich versuche herauszufinden, wer und warum.«
»Dann bist du doch von der Gendarmerie?«
Jean schüttelte ungerührt den Kopf. »Nein. Die verstehen nicht viel von Dämonen.«
Dämonen. Bilder von Klauen, die das Fleisch des Fremden aufschlitzten, bedrängten sie. Hastig wehrte sie sie ab, bevor sich der Würgreiz wieder verstärken konnte. Erneut mischte sich ihr Verstand ein, pochte darauf, dass es solche Wesen nicht gab und alles ein Irrtum sein musste. Irgendein Psychopath hatte den armen Mann umgebracht und dafür gesorgt, dass es wie Selbstmord aussah. In Fernsehkrimis geschah so etwas andauernd. »Jean, es tut mir leid. Das ist ein schreckliches Verbrechen, aber ich kann einfach nicht an Dämonen glauben. Dieses Foto ist kein Beweis, dass es sie gibt.«
Er warf das Bild auf den Tisch und ging zu einem der Fenster hinüber, um in die Nacht zu starren. Sophie seufzte. So kamen sie nicht weiter.
»Es ist die Natur der Dämonen, dass sie die Menschen zum Narren halten – dass sie ihre wahre Gestalt vor ihnen verbergen, sie täuschen und durch die Macht der Beeinflussung wirken«, sagte Jean leise. »Sie töten ihre Opfer nicht selbst. Sie sorgen dafür, dass andere, dass Menschen es für sie tun. Und wenn es das Opfer selbst ist – wie in diesem Fall. Deshalb wirst du niemals den Beweis finden, den du suchst. Du wirst erst merken, dass er dich benutzt, wenn es zu spät ist.«
»Wenn man sie nicht erkennen kann, woher weißt du dann, dass er ein gefallener Engel ist? Er könnte auch irgendein Krimineller sein, oder nicht?«
»Geneviève hat mir bestätigt, dass er gefallen ist. Es muss hier in Paris passiert sein.«
»Ach, und wenn diese Geneviève das sagt, dann muss es stimmen? Was ist sie? Eine Wahrsagerin?«
Er wandte sich ihr wieder zu und schmunzelte. »Nein, sie ist ein Engel.«
Sophie verzog schmollend das Gesicht. »Wenn du anfängst, mich auf den Arm zu nehmen, kann ich auch gehen.« Doch sie stand nicht auf. Als Geneviève sie vor Antoine gerettet hatte, war ihr das Wort Racheengel durch den Kopf gegangen. Sie hatte so groß, so beeindruckend gewirkt, so schrecklich und doch ätherisch schön, dass es unmöglich schien, sich ihr zu widersetzen. Wenn sie es genauer bedachte, war ihr sogar, als hätte sie eine helle Aura um sie gesehen, aber das hatte sie auf den Schreck, die
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