Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
In Paris konnten sich viele nur kleine Appartements leisten, und sie hatte schon davon gehört, dass sich gerade in alten Häusern manchmal noch ganze Etagen eine Toilette teilten. Es tatsächlich bestätigt zu sehen, versetzte ihr jedoch einen Stich. Sie fühlte sich undankbar, weil sie offensichtlich im Luxus lebte und es die meiste Zeit nicht einmal merkte. Wenn seine Familie wüsste, wie er hier hauste! Seine Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Und meine? Sie würde wahrscheinlich triumphierend behaupten, sie habe schon immer gewusst, dass Rafe ein Blender sei, dessen Fassade irgendwann bröckeln musste.
»Ich habe dich gestern vermisst.« Er hatte die Tür geschlossen und war hinter sie getreten, um die Arme um sie zu legen.
Sie spürte seinen Atem im Haar, als er ihr Ohr und ihre Schläfe küsste. Es fiel ihr noch schwerer, Luft zu holen. Der Raum schien eher mit Kleister denn mit Sauerstoff gefüllt. Die zusätzliche Wärme seiner Berührung war kaum erträglich, was es ihr erleichterte, ihn zurückzuweisen. »Hör auf damit!«, bat sie und löste sich von ihm. »Gib mir nicht das Gefühl, dass es dir nur darum geht, mich zu verführen.«
»Wenn es so wäre, würdest du es nicht wissen wollen?«, zog er sie auf.
Sie lächelte nur halbherzig. »Mach lieber keine Witze darüber. Ich bin nicht in der Stimmung, die Dinge leicht zu nehmen.« Die Hitze trieb ihr den Schweiß aus allen Poren und laugte sie aus. Selbst das Denken fiel ihr zunehmend schwer. Von Minute zu Minute kam sie sich schlaffer und kraftloser vor – wie eine welkende Pflanze. »Hast du vielleicht ein Glas Wasser für mich?«
»Natürlich. Entschuldige! Ich bin ein schlechter Gastgeber«, gestand er, holte ein Glas aus einem Fach des Wäscheschranks und schenkte ihr aus einer Plastikflasche ein.
Sophie ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder. Das kalte Wasser bescherte ihr einen neuerlichen Schweißausbruch, doch sie glaubte förmlich zu spüren, wie ihre Zellen die Flüssigkeit aufsogen. Sogleich fühlte sie sich besser. Ihr Verstand gewann Klarheit zurück. »Ich habe über uns nachgedacht, und mir ist klar geworden, dass ich mehr Ehrlichkeit von dir will.«
»Hast du nicht eben noch darum gebeten, dir im Zweifelsfall etwas vorzumachen?«, fragte er verschmitzt und trank direkt aus der Flasche.
Sophie verdrehte die Augen. »Ich war davon ausgegangen, dass du mir nur unwissentlich einen falschen Eindruck vermittelst, während es in Wahrheit auch noch etwas anderes als Sex für dich gibt. Korrigiere mich, wenn ich mich irre! Das wüsste ich nämlich wirklich gern.«
»Zu einfach gefragt, chérie«, behauptete er belustigt. »Es gibt noch andere Dinge als Sex für mich. Dafür muss ich nicht einmal flunkern.«
Mit mäßigem Erfolg unterdrückte sie ein Stöhnen. Warum musst du es mir so schwer machen? »Rafe, das ist kein Spaß mehr. Ich meine es ernst. Hast du wirklich dein Gedächtnis verloren? Wie weit reicht deine Erinnerung zurück?«
Er stellte die Flasche ab und schien endlich bei der Sache zu sein. »Nur bis Mitte April.«
Niemals würde sie Gewissheit haben, wenn er ihr bei einer Lüge so direkt in die Augen blicken konnte. Aber war es denn sicher, dass er sie anschwindelte? Warum hatte sie Jean nicht gefragt, ob sich Engel an das Leben vor ihrem Tod erinnern konnten? »Du … weißt also nicht, wie du hierhergekommen bist?«
Seine vage Geste deutete an, dass es das nicht ganz traf. »Sagen wir mal, dass ich nicht weiß, was vor Mitte April geschah und das hier zurückgelassen hat.« Er zog das T-Shirt hoch und entblößte zwei rötliche Narben auf seinem Bauch. »Wenn mich nicht alles täuscht, kamen die Kugeln hinten wieder raus«, fügte er hinzu und drehte sich kurz um, damit sie die verheilten Austrittslöcher sehen konnte.
Ergriffen streckte sie die Hand aus, um die Narben zu berühren. Das Gewebe fühlte sich weicher, verletzlicher an als die umgebende Haut.
»Es gibt noch mehr davon, aber wenn ich mich ausziehe, unterstellst du mir wieder, dass ich dich nur ins Bett kriegen will.«
Der Witz blieb ohne Wirkung. Sie sah nur die Zeugnisse seines Todes. Kein Mensch kann das überleben. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie bekam nicht mehr als ein Flüstern heraus. »Wer bist du?«
»Das siehst du doch gerade.« Er ließ das T-Shirt los, während sie zu ihm aufblickte. Der Stoff fiel über ihre Hand, die sie rasch zurückzog.
»Ich will es von dir hören. Wer bist du?«
Wenn seine
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