Der Kuss des Greifen (German Edition)
später ließ Rune sie los, um wieder in seine Jeans zu schlüpfen und aufzustehen. In ihrer Nacktheit völlig unbefangen, rollte sich Carling auf dem Boden zusammen wie eine Katze und sah ihm zu. Er ging in eines der Schlafzimmer, kehrte mit einem Hotelbademantel zurück und reichte ihn ihr. Sie setzte sich auf, zog ihn über und knotete den Gürtel zu.
Rune betrachtete sie mit düsterer Miene und tigerte rastlos weiter durchs Zimmer. Nachdenklich sah sie ihn an. Das war eine interessante Reaktion auf … nun, auf etwas, das sie für wahnsinnig guten Sex gehalten hatte.
Wenn sie sich richtig erinnerte – es war wahrlich eine ganze Weile her –, hatten die meisten Männer danach gegähnt, sich umgedreht und waren eingeschlafen. Oder sie waren davongerannt. Aber das gerade eben – sowohl hier auf dem Boden als auch unten in der Lobby – war jenseits von allem, was sie kannte. Weil Rune weder davonlief noch schlief, war sie nicht hundertprozentig sicher, ob sie alles richtig gemacht hatte. Sie wusste, dass sie selbst bei den alltäglichsten Zusammenkünften für die meisten etwas zu wild war. Und zwischen Rune und ihr war gerade nichts alltäglich gewesen.
Und dann war etwas mit ihm geschehen. Etwas Tiefgreifendes und Verstörendes. Sein Lachen war verstummt, und in ihm hatte ein merkwürdiger Kampf getobt. Er war ohnehin ein Mann mit intensiven Gefühlen, und sowohl die Intensität als auch die Gefühle steigerten sich – ebenso wie die Aufwallungen von Aggressivität. Manchmal, wenn er sie ansah, fühlte er sich zerrissen, und zum ersten Mal seit langer Zeit bereute sie, dass sie mit dem Alter zu einem Sukkubus geworden war. Keine Frau wollte wissen, dass es ihrem Geliebten bei ihrem Anblick so erging.
Vielleicht sollte sie ihn fragen, was los war. Vielleicht sollte sie ihn fortschicken.
Vielleicht war das Klügste, was sie tun konnte, abzuwarten. Vielleicht würde er ihr, wenn er so weit war, von sich aus erzählen, was er empfand.
Sie rieb sich die Stirn und wandte das Gesicht ab, um sich nichts anmerken zu lassen. Unsicherheit machte sie verwundbar, noch mehr als Begehren, und nun konnte der Mond ihr nicht mehr helfen, ihre Geheimnisse zu verbergen. Unfreundliches Tageslicht legte alles bloß, und draußen löste sich der scheue Nebel im Opferfeuer des Sonnenlichts auf.
Sie blickte sich um und nahm eine Inventur ihres derzeitigen Lebens vor. »So viel zu tun«, murmelte sie. »Und so wenig Zeit.«
Vor dem Wohnzimmer befand sich ein schmiedeeiserner Balkon mit filigranen Verzierungen, und gegen den strahlend blauen Himmel zeichnete sich deutlich die Skyline der Stadt ab. Die Suite war elegant in matten Gold- und Cremetönen eingerichtet, und eine blaue Couch sorgte für farblichen Kontrast. Das Möbelstück selbst war modern, aber die Klauenfüße an den Beinen und der Brokatüberwurf verliehen ihm ein wenig vom Charme der alten Welt. Den Esstisch zierte eine Vase mit frischen Schnittblumen.
Wenngleich die Suite hübsch war, hatte sie nicht gerade ein zeitloses Design. Carlings Lippen kräuselten sich, als sie daran dachte, wie ihr Gefolge und Tiago das Regent Hotel in Chicago zerlegt hatten. Vielleicht würde es dem Fairmont besser ergehen.
Sie hob die Fetzen ihres Kaftans auf. Es war nicht einmal mehr genug zusammenhängender Stoff übrig, um ihn wie beim letzten Mal zusammenzuknoten und wenigstens vorübergehend anzuziehen. Seufzend ließ sie ihn fallen und ging zur Couch, auf die Rune die Taschen geworfen hatte.
Rune hörte auf, hin und her zu laufen. Sie spürte seinen prüfenden Blick wie eine körperliche Berührung, hielt das Gesicht jedoch abgewandt. Sie hatte nicht daran gedacht, außer den Journalen, Skizzen und anderen Gegenständen auch Kleidung einzupacken. Zu Hause hätte sie sich wenigstens einen Satz Kleidung zum Wechseln schnappen sollen. Und jetzt hatte sie keine Leibdienerin mehr, die sich um so etwas kümmerte. Wenigstens hatte sie weit genug vorausgedacht, dem Personal zu sagen, es solle ihr einige Sachen schicken. Sie griff nach Runes Seesack.
»Bis Rufio mir meine Kleidung schickt, habe ich nichts zum Anziehen«, sagte sie. »Buchstäblich nichts. Wir müssen Dinge erledigen – Telefonate führen, eine Meduse konsultieren –, und ich muss einen Dschinn beschwören. Und Gott allein weiß, was danach noch alles ansteht – oder wo wir hinmüssen.«
Mit einem Ruck öffnete sie seinen Seesack und fing an, darin herumzuwühlen. Sie zog eine Ziploc-Tüte hervor, die mit einigen
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