Der Kuss des Greifen (German Edition)
drehte sich um sie. Heiliger Bimbam. Sie klammerte sich am Tresen fest.
»Musst du dich übergeben?«, wollte er wissen.
»Nein!« Sie versuchte, ihn anzusehen. »Ich glaube nicht.«
Dann schlug die Euphorie zu. Eine Hitzewelle überlief ihre Haut wie eine Feuerwand. Als sie sich zu Rune umdrehte, waren ihre Augen granatrot geworden.
Seine Miene zuckte. Er flüsterte: »Hallo schönes, reizbares Mädchen.«
Sie knurrte, stürzte sich auf ihn und riss ihn zu Boden, wo sie sich mit rasender, wilder Glut liebten.
Inzwischen konnte sie schon eine viertel Tasse seines Blutes auf einmal in einem Glas Wein zu sich nehmen. Die magische Energie raubte ihr jedes Mal beinahe die Besinnung, aber sie fühlte sich energiegeladener als je zuvor. Es gab noch andere Nebenwirkungen als »Sex wie vom wilden Affen gebissen«, wie Rune es so wortgewandt ausdrückte. Nach und nach verlor sie die Fähigkeit, die Gefühle anderer Wesen zu spüren. Außerdem fühlte sie sich auf eine Art geerdet, die sie ganz vergessen hatte. Ihre eigene magische Energie lief nicht mehr ständig auf Hochtouren, und sie wurde häufiger müde. Außerdem konnte sie ihren Schutzzauber gegen die Sonne nicht mehr länger als eine Stunde am Stück aufrechterhalten. Als sie diese Fähigkeit verlor, kauften sie und Rune im Internet Umhänge, Sunblocker mit Lichtschutzfaktor 100+ und andere Schutzmaßnahmen.
Und erst an diesem Nachmittag hatte sie ein halbstündiges Nickerchen gemacht, was eine so selige Erfrischung gewesen war, dass sie mit Tränen in den Augen aufgewacht war. Rune lag ausgestreckt neben ihr auf dem Bett, den Kopf in eine Hand gestützt, und sah ihr beim Schlafen zu. Sie drehte sich zu ihm um und erblickte in seinem Gesicht einen Ausdruck solcher Zärtlichkeit, dass sich ihre Augen erst recht mit Tränen füllten. Gleichzeitig nahmen sie sich in die Arme und hielten sich fest. Er vergrub das Gesicht in ihren Haaren und wiegte sie leicht hin und her.
Vielleicht würde es nicht von Dauer sein. Vielleicht war es nur eine Gnadenfrist, und ihre Symptome würden zurückkehren. Keiner von ihnen wollte sich auf die Worte verlassen, die der Geist der verrückten Python gesprochen hatte. Es war das Weiseste und Klügste, weiterhin alle Wege der Forschung zu verfolgen. Deshalb wollten sie Seremela in Vollzeit für das Projekt gewinnen. Aber im Augenblick behaupteten sie sich gemeinsam gegen die Zeit und den Rest der Welt. Sie hielten stand.
Andere Leute setzten sich mit ihnen in Verbindung. Auf Carlings Anweisung hin stellte Duncan bei Julian einen Antrag, die sichere Überführung ihrer Bibliothek überwachen zu dürfen. Sie war sich beinahe sicher, Duncan zur Eröffnung eines Anwaltsbüros in Miami beschwatzt zu haben. Vielleicht könnte sie ihn sogar zu einem Umzug überreden. Sie sprach auch mit anderen und hatte den Verdacht, dass Julian schon sehr bald einige hochtalentierte Persönlichkeiten aus seinem Reich vermissen würde.
Aryal rief Rune täglich an, um ihm mitzuteilen, was für ein Riesenarsch er war und wie sehr sie ihn hasste. Einmal rief sie Carling an, um auch ihr zu sagen, was für ein Riesenarsch sie war. Carling lachte und lud die Harpyie auf einen Besuch ein. Die anderen Wächter riefen manchmal an, um etwas wegen der Arbeit zu fragen, und manchmal auch nur, um zu quatschen. Dragos rief nie an, und auch Rune rief ihn nicht an.
Carling beobachtete Rune genau, wenn er mit seinen Freunden, den Wächtern, redete und lachte. Es schmerzte sie, dass sie es ihm nicht leichter machen konnte. Aber so sehr sie auch danach suchte, fand sie doch niemals ein Anzeichen für etwas, das seinen Worten widersprochen hätte. Er vermisste seine Freunde, aber er bereute nichts.
Dennoch wäre es gut, eine konkrete Vorstellung davon zu entwickeln, was sie als Nächstes tun würden. Wie Rune eines Tages grinsend zu Constantine sagte: »Ich glaube, ich werde mir einen Don-Johnson-Anzug kaufen müssen, solange ich hier unten bin. Du glaubst, du bist lässig, Kumpel? Johnson war lässig. Dem kannst du nicht das Wasser reichen.«
Carling war kein großer Fernsehfan, deshalb musste sie auch diese Anspielung googeln. Die Fotos der Serie Miami Vice aus den 1980er Jahren brachten sie zum Kichern.
Jetzt legte sie ihr iPad und die Bücher beiseite und strich an Runes Arm entlang, womit sie ihn stumm um die Fernbedienung bat. Er reichte sie ihr und neigte dabei den Kopf zur Seite, um ihr ein schläfrig wirkendes, sexy Lächeln zuzuwerfen. Sie schaltete den
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