Der Kuss des Greifen (German Edition)
deine Magie nicht an.«
»Weil sie es nicht ist.« Sie schloss die Türen wieder und verriegelte sie. »Im Lauf der Jahrhunderte habe ich mehr als genug Fehler gemacht, aber zum Glück kann ich sagen, dass die Zuwendung zu derart schwarzen Mächten nicht dazuzählt. Sie verlangen zu große Opfer. Sie verschlingen alles, was man ihnen gibt, und dann nehmen sie einem auch noch die Seele.«
»Warum besitzt du diese Bücher dann?«
Der Blick, mit dem Carling ihn bedachte, wurde fragend. »Studierst du nicht die Instrumente, die deine Feinde verwenden?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und legte die Stirn in Falten. »Doch, aber diese Instrumente sind in der Regel nicht … ansteckend.«
»Wie weit wäre man mit der Behandlung von Ebola gekommen, wenn man das Virus nicht untersucht hätte? Das hier ist nichts anderes, und glaube mir, ich habe Vorkehrungen getroffen. Glücklicherweise muss ich diese Quellen nur selten befragen, weshalb sie dann und wann rastlos werden. Dinge, die mithilfe schwarzer Magie hergestellt wurden, sind hungrig und niemals zufrieden.«
»Du sprichst über diese Dinge, als hätten sie Empfindungen.« Finster starrte er auf den Schrank. Die feinen Härchen in seinem Nacken sträubten sich.
»Ich glaube, sie sind zumindest partiell empfindungsfähig. Etwas von ihren Erschaffern bleibt an ihnen haften und ebenso ein Teil der Seelen derer, die für ihre Erschaffung geopfert wurden.« Sie setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die unterste Schublade. Wie Rune sehen konnte, enthielt sie Akten, die säuberlich beschriftet waren. Carling nahm einige Notizbücher heraus und schloss die Schublade wieder. »Das ist das Destillat meiner Arbeit der letzten paar Jahrhunderte, die Suche nach einer Möglichkeit, das Fortschreiten des Vampyrismus aufzuhalten.«
Er betrachtete sie interessiert. »Und es ist wohl besser, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, als ein Heilmittel zu finden, weil du durch eine Heilung wieder menschlich würdest?«
»Theoretisch. Leider ist zu viel davon noch theoretisch, denn es gibt tatsächlich kein bekanntes Heilmittel. Und sollte jemals ein ›Heilmittel‹ gefunden werden, würde das ernsthafte Probleme und Fragen aufwerfen.« Sie reichte ihm die Notizbücher.
Er öffnete das oberste Heft und sah sich die erste Seite an. Sie war mit der gleichen säuberlichen Handschrift beschrieben wie die Etiketten der Akten. »Mich würde interessieren, wie man ein solches Heilmittel testen sollte«, bemerkte er. »Und wo und an wem.«
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht würde sich eine große medizinische Einrichtung mit Forschungsschwerpunkt darum kümmern, die Johns-Hopkins-Universität zum Beispiel. Es könnte Vampyre geben, die unglücklich genug sind, um einige Risiken in Kauf zu nehmen. Aber es hat sich noch kein Ethikkodex für klinische Versuche etabliert, weil bisher noch nichts erfolgreich genug entwickelt worden ist, dass man es hätte testen können.«
»Welche anderen Probleme müssten berücksichtigt werden?«, fragte er.
Sie sah ihn einen Augenblick lang an, als würde sie ihre Gedanken sammeln, dann sagte sie: »Was wären die Konsequenzen eines möglichen Heilmittels? Kann ein ›geheilter‹ Vampyr erneut verwandelt werden, und wenn ja, mit welchem Ergebnis? Oder ist es für einen Vampyr unwiderruflich, so wie es der Vampyrismus jetzt für Menschen ist? Werden Vampyre einfach wieder in Menschen zurückverwandelt? Wie ist ihr Gesundheitszustand nach der Verwandlung? Sind sie wieder genau wie vorher? Einige Vampyre waren vor ihrer Verwandlung unheilbar an anderen Leiden erkrankt. Oder kann es andere Komplikationen geben, zum Beispiel ein fortgeschrittener oder beschleunigter Alterungsprozess oder ein beeinträchtigtes Immunsystem? Und verstärken sich diese Komplikationen mit dem Alter des betreffenden Vampyrs?«
Er schüttelte den Kopf. »In diesen Szenarien würde dich ein Heilmittel buchstäblich umbringen.«
»Genau.« Carling fasste ihr langes dunkles Haar zusammen und drehte es zu einem Knoten. Mit zwei Bleistiften von ihrem Schreibtisch steckte sie ihn rasch fest.
Runes Blick verharrte auf dem schweren, zobelfarbenen Knäuel in Carlings elegantem Nacken. Er wollte noch einmal sehen, wie sie sich das Haar hochsteckte, und musste gegen den kindischen Drang ankämpfen, die Bleistifte herauszuziehen. Die Haare würden sich über ihren sanduhrförmigen Rücken ergießen, und die seidigen Spitzen würden auf die frauliche Rundung ihres
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