Der Kuss des Greifen (German Edition)
Magnet. Den dampfenden Teller in der Hand, sah sie erst das Fleisch und dann wieder Rune an. Dann sprach sie ein Wort, und das Fleisch kühlte ab.
Während sie auf hin zuging, hatte sie ein bizarres Erlebnis. Es begann mit dem Gedanken, wie exotisch es doch war, einem wartenden, hungrigen Mann ein gekochtes Mahl zu bringen. Ohne Zweifel war das etwas, das Millionen Frauen jeden Tag taten, doch in den mehreren Tausend Jahren ihrer Existenz war sie noch nie selbst eine dieser Frauen gewesen.
Rune lächelte sie vorsichtig an. In seinem sehr männlichen Blick lag Anerkennung, was irgendetwas in ihr berührte. Was war es? Verwirrt tastete sie ihre Seele ab, wie man einen schmerzenden Zahn betastet. Es war ebenfalls ungewohnt, diese andere Empfindung zu haben, wie hieß sie noch?
Freude. Als sie das Essen vor ihm abstellte und er sie anlächelte, empfand sie Freude.
In ihrer Magengrube verhärteten sich die Muskeln wie eine Schlange, die sich zusammenrollt, bevor sie zuschlägt. Carling öffnete den Mund und wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Irgendetwas Verletzendes, eine angemessene Abfuhr, bei allen Göttern nichts Hirnloses, sonst würde sie sich schon aus Prinzip von der nächsten Klippe stürzen müssen …
Runes Lächeln war breiter geworden, es lag ein Hauch Verwirrung darin. »Was hast du gerade getan?«, fragte er. »Es war irgendein Zauber. Ich konnte ihn spüren, aber ich habe ihn nicht kapiert.«
Irritiert ringelte sich die Schlange in ihrer Magengrube und verlor die Spannkraft, die sie zum Zuschlagen brauchte. Carling blinzelte und warf einen Blick auf den Herd. Was hatte sie getan? »Ich habe das Fleisch abgekühlt«, sagte sie.
Runes Pupillen hüpften auf und ab, seine hageren, gebräunten Züge hellten sich auf. Er lachte. »Du … hast das Fleisch für mich abgekühlt?«
»Rasputin kann das Hühnchen nicht essen, wenn es zu heiß ist«, sagte sie und sah ihn stirnrunzelnd an. »Es erschien mir logisch, dass du das ebenfalls nicht kannst.«
»Natürlich. Wie bemerkenswert … aufmerksam von dir.« Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein plötzliches Husten zu verstecken. »Du hast den Wadenbeißer Rasputin genannt?«
Seine Erheiterung wirkte auf sie so berauschend, wie es Champagner für Menschen sein musste. Sie bedauerte, dass sie als Mensch nie die Möglichkeit gehabt hatte, Champagner zu trinken. Als sie zum ersten Mal von dem Getränk gehört hatte, war sie schon lange ein Vampyr gewesen.
Sie hob eine Augenbraue. »Der Versuch, deine Erheiterung zu verbergen, ist nutzlos. Und Rasputin schien mir ein passender Name zu sein, da er offenbar genauso schwer totzukriegen ist.«
Sie war dem echten Grigori Rasputin einst begegnet, als sie durch Russland gereist war, um den Rat einer gewissen einsiedlerischen und jähzornigen Hexe einzuholen. Er war ein sonderbarer, ernsthafter Mann gewesen, unverkennbar menschlich und sehr wahrscheinlich geisteskrank, doch jemand, der es angeblich überlebte, erstochen, vergiftet, mehrfach erschossen, verstümmelt und übel zusammengeschlagen zu werden, bevor er letzten Endes ertrank, verdiente ein gewisses Maß an Respekt.
»Außerdem«, murmelte Rune, »ist der Wadenbeißer ganz schön tollwütig.«
Jetzt hoben sich ihre Augenbrauen. »Den Eindruck habe ich gar nicht.«
»Natürlich nicht«, erklärte ihr Rune fröhlich. »Du hast ihn gerettet, du bist eine Frau, und du brätst ihm Hühnchen. Damit ist er dir mit Leib und Seele ergeben.«
Ihr Mund spannte sich. »Er ist eine alberne Kreatur.«
»Er ist ein Hund«, sagte er, seine breiten Schultern hoben sich kurz. »Die sind so.«
Sie verschränkte die Arme unter dem Busen. Erst später fiel ihr auf, dass es eine defensive Geste war. »Ich habe nicht um seine Hingabe gebeten.«
Runes Blick verdunkelte sich zu einem Ausdruck, den sie nicht verstand und nicht in Worte fassen konnte. »Weißt du, es ist nichts Schlimmes, einfach nur aus Nettigkeit nett zu sein, und auch nicht, dass andere Lebewesen darauf eingehen«, sagte er sanft.
Dieses Gespräch war nicht nur unangenehm geworden, es war auch überflüssig. Sie wich seinem durchdringenden Blick aus. »Brauchst du noch irgendetwas anderes, um besser lesen zu können?«, fragte sie mit vereister Stimme.
»Nein«, gab er zurück. Sein Ton war so ruhig und entspannt wie der Rest von ihm. »Nichts. Vielen Dank für das Hühnchen.«
»Gut.« Sie wandte sich zum Gehen, brachte es jedoch nicht fertig, über die Türschwelle zu treten.
Aus
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