Der Kuss des Greifen (German Edition)
lebten, längst an ihre Anwesenheit gewöhnt.
Rune hatte eingewilligt, am Strand auf sie zu warten. Er hatte sie begleiten wollen, aber bei dieser letzten Sache, die sie erledigen musste, bevor sie die Insel verließ, musste sie allein sein. Er hatte gesagt, er würde ihr eine halbe Stunde geben. Sollte sie bis dahin nicht zurück sein, würde er annehmen, dass sie in Trance verfallen war, und nach ihr sehen.
Carling hatte ihm nicht widersprochen. Hier gab es nichts, das ihr etwas zuleide tun würde, trotzdem gefiel ihr die Vorstellung nicht, hilflos und allein in diesem Wald zu sein.
Sie hatte die Forschungsjournale zusammen mit den Zeichnungen auf Papyrus und einigen weiteren Kleinigkeiten aus dem Landhaus in einer abgetragenen Ledertasche verstaut und diese Rune gegeben, damit er sie mitnahm. Als er gegangen war, durchwühlte sie ihren Schrank nach einem sauberen, unversehrten Kaftan und zog ihn an, nachdem sie den zerrissenen weggeworfen hatte. Er hasste ihre Kaftane also, ja? Sie schnaubte. Wie viele davon hatte sie in den letzten paar Tagen ruiniert? Es gab Gründe, warum sie sie so oft trug. Sie ließen sich leicht an- und ausziehen, und ihre Kleidung musste einiges aushalten, insbesondere, wenn sie in Magieangelegenheiten vertieft war.
Als sie fertig angezogen war, ging sie in den Wald und suchte ihren üblichen Platz auf, einen gedrungenen, dunklen Stein, der so alt war, dass seine rauen Kanten von der Zeit geglättet worden waren. Er gab einen guten Sitzplatz ab. Sie ließ sich auf seiner kühlen, harten Oberfläche nieder und wartete.
Es war einer ihrer liebsten Plätze auf der Welt. Die Farne und Orchideen, die unter den hochaufragenden Redwoods gediehen, boten Carling, deren Wurzeln in der Wüste lagen, ein Bild der Großzügigkeit und Extravaganz. Hier lag eine ganz eigene magische Kraft – grüne, uralte Träume von endlosen Abfolgen sonnenheller Tage und von Nächten, in denen der Mond über den Himmel wanderte, vom wilden Getöse der Stürme, die über das Meer kamen.
Sie lauschte, bis sie am Rande ihrer Aufmerksamkeit ein leises Stupsen wahrnahm. Es war nicht direkt ein Geräusch, das sich von den anderen Geräuschen der Nacht hätte unterscheiden lassen, sondern vielmehr die Anwesenheit von etwas, das mit schüchternen, zarten Fingern an ihre magische Energie rührte. Da wusste sie, dass sie nicht mehr allein war.
»Ich bin gekommen, um euch mitzuteilen«, sagte sie leise zu den geflügelten Kreaturen, die sie nie bei Tageslicht sah, »dass ich die Insel nun verlassen muss. Ich werde versuchen, zurückzukommen, aber ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage sein werde. Deshalb habe ich so viele Schutzzauber für euch hinterlassen, wie es mir möglich war.« In Zusammenarbeit mit Duncan hatte sie rechtliche Schutzmaßnahmen und Schutzzauber eingerichtet, doch weder das Gesetz noch die Magie waren immun gegen die Zeit. Neues kam auf die Erde und verließ sie wieder; aber immerhin wusste sie, dass sie ihr Bestes gegeben hatte.
Eine weitere Verpflichtung, von der sie sich gelöst hatte. Allmählich gefiel ihr dieses Gefühl zunehmender Freiheit, bis auf den Teil mit dem Sterben. Dann entschlüpfte ihren Lippen ohne ihr bewusstes Zutun eine Wahrheit, deren Worte wie freigelassene Libellen durch die Luft flogen. Mit brennenden Augen flüsterte sie: »Ihr werdet mir fehlen.«
So lange hatte sie sich beinahe wie tot gefühlt, hatte mehr aus Intellekt bestanden als aus Emotionen. Jetzt, nach so vielen Jahrhunderten der Dürre, erlebte sie eine Renaissance des Fühlens. Aber Wiedergeburten waren schmerzhaft, ebenso wie Veränderungen, und so schien der Quell der Tränen, auf den sie gestoßen war, unerschöpflich zu sein.
Etwas raschelte. Dann gesellten sich andere leise Geräusche dazu, und sie hörte tatsächlich Flügel über sich. Als sie aufsah, streifte etwas Weiches ihre Wange. Sie griff danach.
Es war eine Feder, ähnlich jener, die als Geschenk für sie auf ihrem Fenstersims gelegen hatte. In den tiefen Schatten konnte sie es nicht sehen, doch sie wusste, dass sie schillernd schwarz sein musste. Dann wurde sie abermals von etwas Weichem gestreift, im Gesicht, am Hals, auf den Händen. Die Kreaturen des Waldes flogen über sie hinweg und ließen ihre Federn auf sie hinabregnen. Langsam segelten sie zu Boden wie sanfter, satter Mitternachtsregen.
Sie wischte sich die Augen und straffte die Schultern. Ihre Vergangenheit war nun ebenso ungewiss wie ihre Zukunft. Die Zeit war eine Feuerprobe
Weitere Kostenlose Bücher