Der Kuss des Greifen (German Edition)
geworden, in der alles verbrannte. Eine größere oder tiefergreifende Krise konnte es nicht geben.
Aber eines wusste sie sicher. In beiden Versionen ihrer Vergangenheit war sie in Armut geboren und versklavt worden. Und ebenfalls in beiden Versionen hatte sie Unsterblichkeit erlangt und war eine Königin geworden.
Es hat nicht dich verändert, hatte Rune gesagt. Nicht deine Seele oder deinen Geist.
Endlich verstand sie, was er damit gemeint hatte.
»Ich weiß wieder, wer ich bin«, flüsterte sie.
Und ich werde dieses neue Leben als meines annehmen, wie kurz oder lang es auch währen mag.
Rune hatte sich Carlings Tasche über die Schulter gehängt, seinen Seesack aus dem Haupthaus geholt und war zur Klippe hinuntergegangen, um am Strand auf sie zu warten. Vom Wasser wehte eine leichte Brise heran. Die kalte, feuchte Luft strich angenehm über seine gespannte, überhitzte Haut. Er streifte sein zerrissenes T-Shirt ab und ließ es zu den Taschen und dem wasserdichten Transportbehälter, den er bei seiner Ankunft am Strand zurückgelassen hatte, auf den Boden fallen. Dann ließ er die Schultern kreisen, um die Anspannung zu vertreiben, unter der sich seine Muskeln straff wie Klaviersaiten spannten.
Er war kribbelig, nur einen Schritt von der Grenze zur Unvernunft entfernt. Es gefiel ihm nicht, von Carling getrennt zu sein. War ihr nicht bewusst, wie verwundbar sie war, wenn sie in Trance fiel? Bei der Vorstellung, dass es sie auf einer belebten Straße in der Stadt erwischen könnte, stand er kurz vor einem Schweißausbruch. Sie gehörte zu den gefährlichsten Personen der Nachtwesen, sogar aller Alten Völker, aber jetzt war sie manchmal auch eine der schutzlosesten. Es wäre so einfach, ihr einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen, während sie bewegungs- und widerstandslos dastand, weil ihr Geist in einer anderen Zeit gefangen war.
Und wenn es solche Auswirkungen auf ihn hatte, wenn er bei einem ihrer Schübe in ihrer Nähe war – auf wen oder was könnte es noch diese Auswirkungen haben? Welche anderen Kreaturen oder Mächte könnten in ihren Geist oder ihre Vergangenheit schlüpfen – oder wohin zum Henker auch immer – und diesem tapferen, wilden, schmerzlich zerbrechlichen Tigerjungen begegnen, das Carling als Kind gewesen war?
Befasst du dich nicht mit den Werkzeugen, die deine Feinde benutzen? Sie hatte es zwischen Tür und Angel gesagt, und diese eine Frage hatte eine verborgene Perspektive auf magische Spannungen und Machtspiele eröffnet. Er dachte an die dunklen magischen Mächte, von denen sie gesprochen hatte, an jene hungrigen Gewalten, die sowohl die Seelen der Opfer verschlangen als auch die Seelen derer, die schwarze Magie praktizierten. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sich etwas wie schwarzer Rauch an Carling emporschlängelte, und nun brach ihm wirklich der Schweiß aus.
Er hatte jedes Interesse daran verloren, sein Versprechen zu halten. Als er sich umdrehte, um sich auf die Suche nach ihr zu machen, erblickte er Rhoswen, die den Pfad zu den Klippen entlangging. Sie trug einen Neoprenanzug, das helle Haar hatte sie zu ihrem üblichen strengen Nackenknoten zurückgebunden, und in ihren Armen trug sie ein Bündel, bestehend aus einem Paar Taucherflossen, einer dunklen, wasserfesten Tasche und einem stummen, reglosen Rasputin. Ihr kalter, bitterer Blick streifte Runes Körper, ehe er über die am Boden liegenden Taschen glitt und bei Carlings abgetragener Ledertasche innehielt.
»Carling verlässt die Insel?«, fragte sie.
»Wir gehen in die Stadt, um einige Nachforschungen anzustellen«, sagte er.
Als sich Rune gerade nach Rasputins merkwürdiger Reglosigkeit erkundigen wollte, ließ sie alles, was sie in den Armen hielt, einschließlich Rasputin, fallen. Rune machte einen Satz nach vorn, um den Hund aufzufangen, bevor er im Sand landete. »Was zur Hölle ist mit dir los?«, fragte er.
Die Vampyrin zog die Oberlippe kraus. »Entspann dich, Wyr. Der kleine Scheißer ist in einem Stasiszauber, er hätte nichts davon gemerkt.«
Eingehend betrachtete Rune den Hund in seinen Händen. Rasputins Körper lag entspannt und warm unter dem dichten, üppigen Fell. Er atmete nicht, aber Rune konnte seine Lebensenergie spüren, die wie ein Glühwürmchen unter seinen Fingern glomm. An der Kehle des Hundes vibrierte ein magisches Metallhalsband, das Rune unbekannt war. Behutsam bewegte er ein Bein des Tiers. Das Fleisch gab unter seinen Fingern nach, die zarten Muskeln und Knochen ließen
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