Der Kuss des Greifen (German Edition)
niedere Gottheiten randalierten und ihre Gaben verschwendeten, um in ihrer Verdrossenheit schwächere, verletzlichere Wesen zu quälen. Er hatte keinerlei Verständnis dafür. Er ging vor ihr in die Hocke, stützte seinen heilenden Unterarm auf einem Knie ab und betrachtete sie ruhig. Allmählich hörte sie auf, die Zähne zu fletschen. Stattdessen zeigte sich auf ihrem Gesicht ein Aufflackern von Angst.
Sie war nicht so dumm, dass sie versucht hätte, ihn anzugreifen – obwohl er sehen konnte, wie sehr sie es wollte. »Du bist bisher gut zu Carling gewesen, deshalb werde ich dich nicht umbringen, auch wenn es mich reizt. Du wirst jetzt von hier verschwinden, und vielleicht erkennst du eines Tages, dass sich das Leben nicht nur um dich dreht. Vielleicht aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist es mir so oder so scheißegal. Aber in jedem Fall wirst du dich sowohl von Carling als auch von dem Hund fernhalten, denn wenn du es nicht tust, werde ich dir die Glieder einzeln ausreißen und sie auf einem Scheiterhaufen verbrennen, während du dabei zusiehst. Vampyre können das sehr, sehr lange überleben.«
»Das würdest du nicht tun«, flüsterte sie.
Er hob die Brauen. »Das habe ich bereits.«
Die Angst in ihrem Gesicht wuchs, und er konnte sehen, dass er sie endlich erschüttert hatte. Er wusste wirklich nicht, warum die Leute immer wieder vergaßen, dass er auch diese Seite in sich hatte.
»Darf ich mich nicht mal verabschieden?« Sie versuchte nicht einmal, die Mitleidskarte zu ziehen oder an sein gutes Herz zu appellieren, sondern fragte mit matter, sachlicher Stimme, während der Blick ihrer roten Augen gebannt an seinem hing.
»Nein«, sagte er. »Nicht nach dem Scheiß, den du abgezogen hast. Ich traue dir nicht mehr. Wenn ich dich noch einmal sehe, bringe ich dich um. Keine Ausflüchte, keine Gespräche, keine zweite Chance. Haben wir uns verstanden?«
Während sie seinem Blick standhielt, hob sie ihre Finger an die Lippen und leckte sein Blut davon ab. »Ich glaube, wir haben uns sehr gut verstanden«, sagte Rhoswen.
Die Hände in die Hüften gestützt, stand er da und sah zu, wie die Vampyrin ins Meer tauchte. Sie kam nicht wieder an die Oberfläche. Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, um auf Nummer sicher zu gehen, hob er den Hund auf, legte ihn in seine Armbeuge und machte sich auf die Suche nach Carling. Er traf sie auf dem Weg in den Wald.
Carling betrachtete Rune neugierig, während sie ihm entgegenging. Inzwischen hatte sie sich beinahe an das Gemisch von unbekannten Emotionen gewöhnt, das in ihr zu toben begann, sobald sie ihn erblickte. Er trug kein Hemd, sondern nur seine Jeans, Stiefel und den hellen, silbrigen Mondschein, und sein kraftvoller Körper bewegte sich mit fließender, katzenhafter Anmut. Seine Brust war von den schweren Muskeln eines Schwertkämpfers überzogen, und ein schmaler Pfad von Haaren führte senkrecht an seinem straffen Bauch hinab.
Sie hatte keinen rasenden Puls, den er hätte bemerken können, und sie verbarg die Hände hinter dem Rücken, damit er nicht sah, wie sehr sie zu zittern begannen, als er näher kam. Doch dann roch sie das volle, eisenhaltige Aroma von Blut – seinem Blut – und erkannte Rasputins kleine Gestalt in seinen Armen, und plötzlich rannte sie auf die beiden zu.
Als sie bei ihm ankam, sagte er mit ruhiger Stimme: »Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut.«
Sie streckte die Hand nach Rasputin aus und tastete sowohl den Hund als auch das Halsband magisch ab, während sie Runes Gesicht musterte. Dem Hund ging es gut, das Halsband funktionierte einwandfrei. Sie versuchte, sich von dem Schattenspiel auf Runes nacktem Oberkörper nicht beeindrucken zu lassen, doch das erwies sich als unmöglich. Er hatte nichts Weiches an sich, nicht ein Gramm zusätzlicher Polsterung, wie sie so viele Wesen der Zivilisation verdankten. Er bestand nur aus Erhebungen und Vertiefungen und der kräftigen Wölbung von stark beanspruchten Muskeln unter der geschmeidigen Haut. Obwohl er entspannt neben ihr stand und sein Atem langsam und ruhig ging, war die Luft von der Wucht seiner Gegenwart erfüllt.
Dann entdeckte sie die Narben. Die langen Kerben zogen sich über seinen ganzen Unterarm. Im Mondlicht waren sie nur undeutlich zu sehen und verblassten schnell. Carling strich mit den Fingerspitzen leicht darüber. Es waren Kratzspuren, und sie stammten von einer Hand, die in etwa so groß war wie ihre eigene.
Ihr Körper versteifte sich vor Wut. »Das war
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