Der Kuss des Greifen
nicht. Entweder haben die eine Holzkiste verwendet oder die Ziegel des Sarkophags sind zu feucht gewesen. Auf jedem Fall hat das Grab nachgegeben, als ich draufgefallen bin.«
Oder es hatte bereits jemand anders nach dem Grab gesucht und einen Teil des Sarkophags zerstört. Vermutlich war dies die Zauberin gewesen. Glücklicherweise lag Aiolos nicht allzu tief. Cel beugte sich hinab und reichte ihm die Hand, die dieser ergriff, um sich daran hochzuziehen.
Aiolos klopfte die Friedhofserde, Regenwürmer und Käfer von seinem Gewand. Er nahm von Cel einen der Spaten entgegen. Gemeinsam begannen sie zu graben. Bald hatten sie den Sarkophag weitgehend von der Erde befreit. Der Deckel war, wie erwartet, in Stücke gesprungen. Aiolos ließ sich von Lysandra die Öllampe geben, um hineinzuleuchten. Von einem jung und erst kürzlich Verstorbenen konnte keine Rede sein, auch sah Celtillos dessen Geist nicht.
Aiolos beugte sich über die verdorrte Leiche und nahm ihr etwas aus den Händen, wobei die Finger des Toten zerbrachen. Cel hoffte, dass dieser Wahnsinn bald vorbei war und er endlich den Zauber würde lösen können, der seine Schwester viel zu früh ins Grab bringen würde.
Aiolos hielt eine kleine Wachsfigur, die, wenn man nach den überdeutlich ausgeprägten Geschlechtsmerkmalen ging, einen Mann darstellte, ins Flackerlicht der Öllampe. Die Figur war an mehreren Stellen mit Nadeln durchbohrt.
»Eine Statuette«, sagte Aiolos. »Die Zauberin scheint einen Bindungszauber versucht zu haben.« Aiolos blickte Cel fragend an.
»Was ist ein Bindungszauber?«
»Er dient dazu, einen Menschen dem eigenen Willen zu unterwerfen, sodass er unfähig zu eigenem Handeln wird. Ich vermute in diesem einen Liebeszauber. Es ist Euer Name in die Statuette eingraviert. Außerdem ist eine Strähne hellen Haares darum gebunden, vermutlich das Eure.«
Cel starrte die Statuette an. »Wie ist Creusa an mein Haar gekommen? Wenigstens hat der Zauber nicht gewirkt. Durch einen Liebeszauber an dieses Weib gebunden zu sein, wäre schlimmer als der Tod.«
»Es verwundert mich, dass der Zauber nicht gewirkt hat«, sagte Aiolos, »denn dies sieht nach dem Werk von jemandem aus, der sich wirklich auskennt. Sie muss so erzürnt gewesen sein, dass sie gleich einen neuen Zauber wob, der offenbar diesmal wirkte. Womöglich war sie bei ersterem so emotional involviert, dass sie einen Fehler, welcher Art auch immer, beging.« Aiolos nahm achselzuckend ein Wachstäfelchen aus dem Grab und hielt es ins Licht. »Darauf steht der Zauberspruch: In die Gestalt des Greifen nach Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang banne ich ihn, und seine Liebste, Sirona, soll eine Katze sein bis ans Ende ihrer Tage.«
»Genau dies ist der Zauber, der mich bindet!«, sagte Cel.
»Eure Liebste?«
»Creusa wollte mich, doch ich sie nicht. In ihrer Eifersucht hielt meine Schwester für meine Geliebte.« Als Cel ihren Irrglauben korrigiert hatte, war es zu spät gewesen. Der Schaden war getan.
Aiolos wirkte höchst angespannt. Die Utensilien in den Händen haltend, starrte er entrückt in die Flamme.
Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe es nicht. Es ist, als würde ich an eine Wand stoßen, wenn ich versuche, dem Ursprung des Zaubers zu folgen. Es ist ohnehin ein Wunder, dass es der Zauberin gelang, ihn mit einem derart lange Verstorbenen durchzuführen. Sie muss wirklich sehr gut darin sein.«
»So alt erscheint mir die Grabstele nicht«, sagte Lysandra. »Sie ist noch kaum verwittert. Da sehen viele der anderen schlimmer aus.«
Aiolos hielt seine Öllampe vor die Stele. »Bei Artemis’ Hintern! Sie hat recht. Dieser Mann ist erst vor etwas über einem Jahr verstorben, doch ist bereits jetzt nicht mehr von ihm übrig als ein Gerippe, das noch dazu porös ist. Normalerweise braucht es bei der Trockenheit hier etwa fünf Jahre, um in einen solchen Zustand zu geraten.«
»Ja, und? Was bedeutet das?«, fragte Cel.
Aiolos verstaute die Utensilien in seinem Beutel. »Hier stimmt etwas nicht! Ganz und gar nicht.«
»Und was genau stimmt nicht?«, fragte Cel.
Aiolos hob die Achseln. »Das wüsste ich auch gern.«
Cel wagte es nicht zu fragen, woher Aiolos sein Wissen über die Verwesungsstadien hatte. Offenbar ging er häufiger der Grabräuberei nach.
Plötzlich erklangen Schritte.
»Verdammt!« Aiolos dämpfte seine Stimme. »Wenn sie uns finden, sind wir dran wegen Grabschänderei. Das kann ich mir nicht erlauben. Das ist höchst
Weitere Kostenlose Bücher