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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Morgan
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etwas zu sein, das herauswollte.
    Die Beben, die seinen Leib durchzogen, verwandelten sich in Krämpfe, die ihn schüttelten. Nicht länger konnte er sich auf den Beinen halten und sackte nieder auf alle viere.
    Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Bei seinen Schulterblättern drängte etwas unter der Haut nach außen. Ein erster Federflaum spross zugleich in seinem Nacken. Die Haut an seinem Rücken dehnte sich stark. Sie würde doch nicht etwa reißen?
    Besorgt wollte sie näherkommen, doch er stieß einen Laut aus, der nur entfernt menschlich klang und eher dem Schrei eines Raubvogels ähnelte. Auch in seinem Gesicht schien etwas nach außen zu drängen. Sein Kinn hatte sich bereits verformt!
    Cel veränderte sich. Federn und goldschimmerndes Fell sprossen aus seiner Haut. Seine Fingernägel wuchsen in die Länge zu Krallen. Aus seinem Steiß spross ein Schwanz. Gefiederte Beulen erhoben sich aus seinen Schulterblättern und wuchsen stetig, bis gewaltige Schwingen über ihm emporragten.
    Selbst seine Augenfarbe wurde dunkler, schwarz in der Mitte und gelblich die Pupille, bis er sie mit den Augen eines Adlers anblickte. Gleichzeitig wuchs ihm ein Schnabel aus dem Gesicht, das sich vollkommen verformte. Sie konnte die Schmerzen nur erahnen, die er erleiden musste – bei jedem Sonnenauf- und untergang.
    Doch auch ein anderer Gedanke kam ihr: Dachte er jetzt noch wie ein Mensch oder beherrschte ihn das Tier? Würde er sich auf sie stürzen?
    Andererseits galten Greife nicht unbedingt als aggressiv. Das Wesen vor ihr hatte jedoch einen schlechten Ruf in Delphoí. Würde es sie töten? Schließlich hatte sie ihn angegriffen und verwundet. Die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, war zwar erstaunlich gut verheilt, war aber noch zu erkennen, da das Fell noch nicht vollständig nachgewachsen war.
    »Wenn du ihm nichts tust, wird er auch dir nichts tun«, vernahm sie eine heiser klingende Frauenstimme.
    Sie wandte sich um, doch stand dort nur die weiße Katze. Verwundert starrte Lysandra sie an und glaubte, menschliche Intelligenz in ihren Augen zu erkennen.
    »Weißt du jetzt, was du wissen musst, um uns zu helfen?«
    Die Katze sprach tatsächlich mit ihr! Dann war es wahr!
    Lysandra nickte und wandte ihren Blick wieder dem Greifen zu. Auch in seinen Augen erkannte sie menschliche Intelligenz. Warum war ihr dies zuvor nicht aufgefallen?
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so unendlich leid, dass ich dich verletzt habe, Cel. Hätte ich es gewusst. Oh, bei Athena und Apollon.«
    Lysandra meinte ihre Worte aufrichtig. Bedauern und Entsetzen darüber, dass sie ihn beinahe getötet hätte, wäre die Lanze nicht an den Rippen abgeprallt, pressten ihr die Kehle zusammen. Er hätte sein Herz durchbohren können. Der Zauber wäre vermutlich von ihm abgefallen und vor ihr wäre ein nackter Mann gelegen, den sie niemals kennengelernt hätte.
    Niemals hätte er sie in seinen Armen gehalten und an diese breite Brust gedrückt wie in der Nacht zuvor. Sie wäre es gewesen, die diesen Mann getötet hätte!
    Wäre sie nicht in der offensichtlichen Absicht, den Drachen zu töten, mit Waffen überladen zur Corycischen Grotte gelaufen, hätte er sie vermutlich niemals angegriffen.
    »Du kannst es wieder gutmachen«, sagte der Greif, als kenne er ihre Gedanken. »Hilf mir, den Fluch hellenischer Zauberei zu brechen, der uns das menschliche Dasein nimmt. Gib Sirona und mir unser Leben zurück!« Der Greif breitete seine gewaltigen Schwingen aus und schwang sich hinauf in die Lüfte.
    In diesem Moment ging die Sonne vollends auf. Der ganze Berg erstrahlte im Licht des frühen Morgens, das von des Greifen Fell und Gefieder in verschiedenen Kupfer- und Goldtönen zurückgeworfen wurde. Es erschien ihr, als stünde das Wesen in Flammen oder war aus dem Feuer selbst geformt. Er war ein schönes Tier – faszinierend und gefährlich, so wie der Mann, der sich in dieser Gestalt verbarg.
    »Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, sagte sie und meinte es auch so. Das Schicksal Sironas ähnelte ihrem eigenen: Niemals konnte sie sein, wer sie war. Celtillos erging es nicht besser.
    »Dann halte dich heute um Mitternacht bereit. Ich werde zu deinem Haus kommen.« Der Greif segelte davon, umrahmt von einer Aureole aus Licht.
     
     

Kapitel 4
     

     
     
    Mitten in der Nacht erklang ein Klopfen an der Tür von Nereas Haus. Lysandra, die Cel als nächtlichen Besucher vermutete, ging rasch zur Tür, damit ihre Ziehmutter nicht erwachte.

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