Der Kuss des Greifen
Tropfsteinhöhle. Sie überquerten einen unterirdischen Fluss. Auch hier hingen helle Stalaktiten von der orange schimmernden Decke. Einige reichten bis in den Fluss hinein, andere vereinten sich mit ihren Gegenstücken zu Säulen. Stalagmiten ragten aus dem grünlich schimmernden Wasser, in dem von der Decke herabgefallene und teilweise zerbrochene Stalaktiten lagen. Es war gespenstisch und faszinierend zugleich.
»Ist dies der Lethe?«, fragte Lysandra.
Morpheus nickte. Es war kaum zu glauben, dass der Fluss bereits nahe seiner Quelle so viel Wasser trug, doch offenbar war in der Totenwelt einiges anders.
Sie kamen in eine Höhle, deren Wände und Decke von Metall- und Edelsteinadern durchzogen waren. Eine größere Fläche davon war wie ein schwarzer Spiegel.
Morpheus blieb davor stehen. »Wer möchte zuerst hindurchgehen? Lasst den Frauen den Vortritt. Ihr müsst Euch nur den Ort vorstellen, an dem Ihr sein wollt und schon bald könnt Ihr dort sein. Und wundert Euch nicht über den Frühling, denn im Schattenreich vergeht die Zeit anders.«
»Sirona? Wohin möchtest du?«, fragte Cel.
»Ich möchte zurück nach Belerion. Du auch, Cel?« Sie sah ihn hoffnungsvoll an.
Der Boier nickte. »Es ist ein wunderschönes Land. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dort zu leben.«
Lysandra wurde das Herz schwer. Nun war der Augenblick des Abschieds gekommen. Sie musste zurück nach Delphoí. Kein Weg führte daran vorbei.
»Ich will auch in Belerion leben«, sagte Aiolos, der verstohlen einen Seitenblick zu Sirona warf, die daraufhin errötete.
»Und Ihr?«, fragte Morpheus Lysandra.
»Delphoí.«
Morpheus vollführte eine Handbewegung oberhalb der schwarzen Spiegelfläche. Er wirkte höchst konzentriert.
Zwei Bilder erschienen: Belerion und Delphoí, getrennt durch eine vertikale schwarze Linie.
»Danke, Morpheus, ich danke Euch für alles! Warum öffnet sich das Tor in Hellas, wenn ich bis nach Belerion reisen musste, um in die Unterwelt zu gelangen?«, fragte Lysandra.
Morpheus sah sie an. »Dieses Tor können nur Thanatos und ich öffnen. Die spezielle Verbindung zu diesem Ort hat zuvor nicht existiert. Ich habe sie für Euch erschaffen. Sie wird verschwinden, sobald Ihr hindurchgeschritten seid, während das Tor in Belerion immer existiert. Als Mensch könnt Ihr aufgrund Euer besonderen Gabe einige der bestehenden Tore öffnen, doch nicht alle, und auch kein neues erschaffen, denn dies ist den Göttern vorbehalten.«
Sirona ging zu Lysandra, küsste sie auf die Wange und bedankte sich bei ihr. »Ich hoffe, du wirst trotz allem ein gutes Leben haben in Delphoí«, sagte sie und schien es – ihrem herzlichen Blick nach zu urteilen – auch so zu meinen. Sirona sah Cel so ähnlich, dass es Lysandra schmerzte, sie anzusehen. Die Boierin lächelte sie ein letztes Mal an und schritt anschließend gemeinsam mit Aiolos durch das Tor. Lysandra sah die beiden auf der anderen Seite, auf einer Wiese mit Apfelbäumen. Aiolos konnte seinen Blick kaum von der Boierin abwenden.
»Lysandra«, sagte Cel. Sie wandte sich zu ihm um. »Ich danke dir dafür, dass du uns geholfen hast und hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen.«
Das hoffte Lysandra auch, obgleich sie wusste, wie trügerisch dieser Gedanke war. Für sie gab es nur eine Zukunft und zwar die in Delphoí. Nie wieder würde sie eine Frau sein, nie wieder lieben oder nie damit aufhören, ihn zu lieben, egal, wo sie sich befand oder er auch immer sein mochte. Sie blinzelte die Tränen weg, die in ihre Augen traten. Ein stechender Schmerz durchdrang ihr Herz.
Cel zog sie in seine Arme und küsste sie. Es war ein kurzer Kuss, ein Abschiedskuss. Dann ließ er sie los. »Falls du dich anders entscheiden solltest …«
»Ich wünschte, es wäre anders, doch es liegt nicht an mir. Ich bin nicht frei in meiner Entscheidung. Willst du nicht mitkommen nach Delphoí?«
»Um dort als verhasster Fremder zu leben?«
Er hatte recht. Es gab keine gemeinsame Zukunft für sie. Lysandra konnte von ihm nicht erwarten, Sirona allein zu lassen, um auf dem Parnassós oder in Delphoí zu leben für die wenigen Momente, in denen sie sich von den Pflichten ihrer Familie gegenüber wegstehlen würde können. Dass es keine gemeinsame Zukunft für sie beide gab, lag wohl daran, dass sie selbst keine Zukunft hatte. Gewiss keine erstrebenswerte, doch sie würde ohne zu klagen ihre Pflicht tun. Später irgendwann wäre sie frei … Bis dahin hätte Cel eine andere Frau oder lebte
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