Der Kuss des Greifen
Nachricht von ihm Delphoí bereits erreicht hatte. Normalerweise waren diese mit den Schiffen unterwegs, was einige Zeit dauerte.
»Damasos. Ein Phönizier gab mir Nachricht von ihm. Er hat deine Witwe äh Frau geheiratet. Immerhin bist du fast zwei Jahre nicht mehr bei ihr gewesen. So kannst du es ihm nicht vorhalten. Er ist jetzt mit ihr in Alis Ubbo.«
Lysandra war vollkommen schockiert. Zwei Jahre! Die Zeit im Totenreich verging anders als in der Welt der Menschen. Sie waren also viel länger dort gewesen, als sie gedacht hatten. Das mit Arishat machte ihr natürlich nichts aus. Sie war froh, dass diese Angelegenheit für sie erledigt war.
»Du meinst Arishat?«
Nerea nickte.
»Die kann er haben.«
Sowohl Nerea als auch Apollonios erbleichten.
»Bei Zeus!«, rief Nerea. »Ich wusste, dass die Ursache eurer Eheschließung äußerst prekär war, doch dies hätte ich nicht von dir erwartet. Ich bin zutiefst entsetzt! War denn meine ganze Erziehung an dir vergeudet? Es stimmt also doch, dass du ein gewissenloser Verführer bist.«
Lysandra hätte am liebsten losgelacht angesichts der Absurdität der Situation. »Wer sagt das?«
»Dein Bruder.«
»Dann lügt er. Dieses Weib hat mich in die Ehe gelockt.«
»Das behaupten alle gewissenlosen Verführer.«
»Du weißt genau, dass dies alles nicht wahr ist und ich gar kein Verführer sein kann.« Lebte Nerea in einer Scheinwelt?
»Ich weiß nur, dass Damasos sich um die Frau gekümmert hat, nachdem du sie kurz nach der Hochzeit verlassen hast, um zur See zu fahren. Hinfort mit dir! Du bist eine Schande für unsere Familie. Du bist nicht mehr mein Sohn! Hier geht es mir gut. Ich brauche dich nicht! Ich wünschte, du wärst tot!«
Daher wehte also der Wind … Natürlich wünschte Nerea sich das, jetzt, wo sie anderweitig versorgt war und von Apollonios offenbar gut behandelt wurde und sie, Lysandra, dadurch nicht mehr brauchte und loswerden wollte, bevor ihre Verkleidung möglicherweise doch noch aufflog. Dennoch schmerzte es Lysandra. Um Damasos’ und ihrem eigenen Ruf nicht zu schaden, verstieß Nerea sie. Diesmal kamen Lysandra Nereas Ablehnung und das falsche Spiel gelegen.
Lysandra deutete eine Verbeugung an. »Herzlichen Dank! Lebt wohl, Ziehmutter! Und Ihr, Apollonios, verehrter Schwager, ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr meiner Schwester die allerherzlichsten Grüße von mir ausrichten würdet. Überreicht ihr das von mir. Vielleicht komme ich eines Tages wieder.« Lysandra gab ihm eine schöne Muschel, die sie am Strand von Belerion gefunden habe. Belerion, das ersehnte Land, das von der Höhle des Morpheus aus nur einen Schritt weit entfernt war, doch jetzt in so weiter Ferne lag. Bis sie dort sein würde, waren all die Blumen verblüht und Cel erinnerte sich womöglich ihrer nicht mehr. Sofern er und seine Schwester bis dahin nicht längst weitergezogen waren. Belerion war groß und er hatte Nomadenblut in seinen Adern.
Apollonios nahm die Muschel dankend entgegen.
Nerea wurde bleich. »Du kannst doch nicht einfach so gehen!«
»Ich kann, Nerea, und ich werde. Ihr selbst habt mich entlassen und somit von meinem Eid entbunden.«
»Der Eid …«
»Den habe ich erfüllt. Es war nur die Rede davon, dass ich zurückkehre und nicht, dass ich für immer bei dir bleibe.«
Nerea kreischte auf. »Sag mir, wohin du gehst!«
Lysandra verstand nicht, warum sie das überhaupt fragte. Sie wollte sie doch loshaben.
»In mein Leben, in meine Zukunft, in der ich sein kann, was ich bin.« Lysandra verließ das Haus, bevor Nerea weitere Einwände äußern konnte.
Ihr erster Gedanke galt Celtillos. Sie wollte zu ihm zurück. Dazu musste sie ein Schiff finden, das sie nach Belerion bringen würde, doch sie hatte nur noch wenig Geld. Würde es genügen? Notfalls würde sie rudern oder Arbeiten auf dem Schiff übernehmen. So leicht war sie nicht unterzukriegen. Mehr als ein halbes Jahr, vielleicht sogar neun Monate, je nachdem ob der Wind günstig war, würde die Reise dauern – eine lange Zeit, in der sie Cel nicht sehen würde.
Gedachte er ihrer oder würde er sie vergessen, in den Monaten, die kommen sollten? Wäre er bis dahin gar an eine andere Frau gebunden, bevor sie in Belerion eintreffen würde? Falls sie überhaupt bis dorthin gelangte, denn viele Schiffe sanken zuvor oder wurden von Seeräubern überfallen und die Mannschaft sowie sämtliche Reisende in die Sklaverei verkauft. Diesmal würde sie nicht den Schutz des Greifen haben. Doch sie
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