Der Kuss des Greifen
Lysandra verwunderte. Persephone musste doch schon hier sein. Es war Herbst.
Hades sah in der Tat unheilvoll aus, fand Lysandra. Sein Haar war ebenso schwarz wie das des Thanatos, nur im Gegensatz zu diesem lockig und reichte bis zu den Schultern. Zudem trug er einen kurz gestutzten Bart.
Aus stechenden dunklen Augen sah er die Ankömmlinge an.
»Seid gegrüßt, ehrenwerter Hades. Dies sind die Eindringlinge.«
»Ich grüße Euch, Thanatos.« Hades rümpfte die Nase. »Was stinkt da so? Könnte Kentaurenkot sein, wenn ich mich nicht irre.« Seine Stimme hallte von den dunklen, von Silberadern durchzogenen Steinwänden wider.
»Morpheus hält diesen für einen guten Dünger«, sagte Ker.
Hades taxierte sie, furchte die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. »Aber doch nicht fürs Haar, Ker.«
»Dafür kann ich nichts. Mir ist versehentlich mein Kopf auf sein frisch gedüngtes Schlafmohnfeld gefallen.«
»Wenns sonst nichts ist. Berichtet, Thanatos. Was hat Ker mit diesen Leuten zu schaffen?«
»Sie wollte den Keltoi, da er ein überaus mächtiger Nekromant ist.«
Hades hob die Brauen. »Wie interessant.« Er wandte sich an Cel. »Ihr gedenkt doch nicht etwa, Eure Macht zu missbrauchen?«
»Natürlich nicht. Bis vor kurzem wusste ich noch nicht mal davon.«
»Thanatos?«
»Ich bin dafür, sie ziehen zu lassen. Der Keltoi hat im Zweikampf gegen mich doppelt so lange durchgehalten wie jeder andere zuvor.«
»Wirklich erstaunlich. Warum sind sie hier?«, fragte Hades.
»Cel und seine Schwester«, Thanatos deutete auf die Katze, »wurden von Ker mit einem Zauber belegt.«
»Das blutbesudelte Eichhörnchen ist seine Schwester?«, fragte Hades.
»Ich bin eine Katze!«
Thanatos räusperte sich. »Ker gedachte, sie sich damit gefügig zu machen.«
»Um dich zu stürzen?«
Thanatos nickte.
»Das ist nicht gut«, sagte Hades. »Ker wird tausend Jahre lang in den Tartaros verbannt.«
Ker erbleichte. »Das könnt Ihr mir nicht antun!«
»Doch, das kann ich. Die Menschen lasst ziehen. Doch eines merkt Euch, Keltoi: Ihr könnt Eure Macht verwenden, um Euch und die, die Ihr liebt zu schützen. Solltet Ihr sie jedoch missbrauchen, so ist Euch der frühe Tod gewiss. Wir beobachten Euch. Morpheus bringt Euch hinaus.«
Morpheus wandte sich an Hades. »Erlaubt mir, Herr, Euch daran zu erinnern, dass sie wegen des Zaubers hier sind. Würdet Ihr bitte so großmütig sein und diesen von ihnen nehmen?«
»Ach, den hätte ich beinahe vergessen. Setzt die Katze auf den Boden.«
Aiolos ließ Sirona vorsichtig herab. Hades hob beide Hände, schloss die Augen, murmelte etwas Unverständliches und plötzlich fielen winzige Sternschnuppen, scheinbar aus dem Nichts entstanden, von der Decke, deren Höhe nicht auszumachen war. Die Sternschnuppen lösten sich auf zu einem Funkenregen, der sowohl Cel als auch Sirona erfasste. Ein Licht umspielte sie. Der Greif wurde sichtbar als durchscheinende Gestalt, welche den Mann durchdrang. Über Sirona erschien eine menschliche Form, die immer dichter wurde, während Greif und Katze immer weiter verblassten und verschwanden.
Cel hatte sich äußerlich nicht verändert. Sirona stand vor ihnen, nur bedeckt von ihrem polangen silberblonden Haar. Ein Ausdruck des Unglaubens stand in ihrem Blick, während sie ihr Gesicht und dann ihren Leib befühlte.
Aiolos kam zu ihr, um sie in seinen Umhang zu hüllen. Sie dankte ihm mit einer Stimme, die entfernt an die der Katze erinnerte. Cels Schwester war eine wahre Schönheit.
»Als sie verwandelt wurde, war sie fast noch ein Kind gewesen«, sagte Cel, der Sirona ungläubig anstarrte. »Das war vor etwa einem Jahr, doch etwa fünf ist sie seitdem gealtert. Es war höchste Zeit …«
Lysandra schluckte, denn sie wurde sich gewahr, was es bedeutet hätte, wäre Sirona nicht zurückverwandelt worden.
»Folgt mir! Ich bringe Euch zurück«, sagte Morpheus.
»Das ging aber alles schnell«, sagte Lysandra.
»Hades ist ein Mann von schnellen Entschlüssen«, sagte Morpheus.
Despoina und Areion verabschiedeten sich und verschwanden in den Weiten des Schattenreichs. Thanatos nahm Ker mit sich. Lysandra, Cel, Aiolos und Sirona folgten Morpheus, der sie zu seiner Höhle geleitete.
»Was sollen wir in deiner Heimstätte?«, fragte Lysandra.
»Dort befindet sich eines der mächtigsten Tore des Schattenreichs, das nur Thanatos und ich öffnen können. Es kann Euch überall hinbringen, wo Ihr wollt.«
Er führte sie durch die Gänge der
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