Der Kuss des Greifen
an einem Ort, von dem sie nicht wusste.
»Lebe wohl, Cel. Ich werde dich niemals vergessen.« Ein letztes Mal sah sie ihn an und glaubte in seinem Blick den Schmerz zu erkennen, den auch sie empfand. Schnell wandte sie sich ab, um zurückzukehren nach Delphoí. Sie durchschritt das Portal, einen Weg ohne Wiederkehr. Der heiße Wind von Hellas trocknete ihre Tränen. Sie sah Morpheus’ Portal wie schwarzen Rauch hinter sich entschwinden. Keine Blumen, Hecken und Apfelbäume, kein Heidekraut wie in Belerion gab es hier, nur karge Flechten und vereinzelt Bäume.
Lysandra lief vom Fuße des Berges hinab zur Stadt, die ihr vertraut und fremd zugleich erschien. Wie lange war sie fort gewesen? Sie lief durch die staubigen Straßen, wo der Wind den Sand hochhob und umherwirbelte. Die Feuerschalen waren längst erloschen. Alte Frauen saßen in verblichenen Gewändern vor den Häusern. Sie starrten Lysandra an, als sähen sie einen Geist.
»Ist das nicht Lysandros?«, fragte eine von ihnen ihre Begleiterin.
Ein junger Mann trat aus dem Haus und kam hinzu. »Das kann nur ein Betrüger sein, denn sein Bruder sagt, er sei tot.«
»Vielleicht ist er es wirklich. Womöglich ist er geflohen. Das sähe ihm ähnlich.«
Nichts hatte sich geändert. Alles hatte sich geändert. Sie selbst war nicht mehr die Gleiche wie vor einem Jahr. Sie hatte die Liebe und das Leben kennengelernt, was sich nun als folgenschwerer Fehler erwies, denn nun kannte sie auch den Verlust und den Schmerz, den dies mit sich brachte. Besser wäre es gewesen, niemals davon gekostet zu haben, als sich für den Rest des Lebens danach zu sehnen.
Lysandra erreichte das Haus ihrer Ziehmutter, doch fand sie es leer vor. Ein alter Mann, der sie offenbar nicht erkannte, fragte sie, wen sie suche. Auf ihre Frage nach Nerea antwortete er ihr, dass diese und ihre Tochter Hermióne nun woanders wohnen würden, nachdem Nereas Söhne in die Ferne ausgezogen waren und Hermióne geheiratet hatte. Ihre so viele Jahre jüngere Schwester hatte geheiratet? Mit einem Mal fühlte sich Lysandra sehr alt – und unsäglich einsam.
Ob sich auch Damasos bereits auf dem Rückweg befand? Vor Anbruch des Herbstes war nicht mit seiner Ankunft zu rechnen. Doch warum wusste der junge Mann von ihm? Hatte Damasos Nerea eine Nachricht zukommen lassen?
Lysandra ließ sich den Weg zu Hermiónes Haus beschreiben. Der Gedanke, dass ihre jüngere Ziehschwester nun verheiratet war, erschien ihr immer noch befremdlich. Sie kannte sie nur als kleines Mädchen. Da Hermióne im Gegensatz zu ihr in den Frauengemächern aufgewachsen war, hatte sie sie nur zwei Mal gesehen vor vielen Jahren. Es schickte sich einfach nicht, dass ein weibliches Wesen von einem Mann oder Jungen erblickt wurde, selbst wenn dieser so wenig maskulin war wie Lysandra.
Als sie an die Tür des Hauses klopfte, hoffte sie, dass man sie zu ihrer Ziehmutter vorlassen würde. Ein Diener erschien und fragte nach ihrem Begehr. Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, führte er sie hinein. Vom zentral gehaltenen Hof zweigten in alle Richtungen Räume ab. Die gepflasterten Wände waren weiß getüncht, wohingegen der Boden mit einem Mosaik aus kleinen Kieseln versehen war. Die winzigen, sehr hoch angesetzten Fenster waren nicht mit Säcken verhangen, doch der angrenzende Raum war durch einen blickdichten Vorhang abgetrennt.
Wie erwartet erschien zuerst Hermiónes Mann. Er hatte kurz geschnittenes, krauses Haar, ein schmales Gesicht und war schätzungsweise etwa Mitte dreißig.
»Mein Name ist Apollonios. Ihr behauptet also, mein Schwager zu sein.« Prüfend glitten seine Augen über sie. Inständig hoffte sie, dass er nicht erkannte, wie es wirklich um sie stand.
»Behaupten? Ich bin Euer Schwager – vorausgesetzt natürlich, Ihr seid überhaupt wirklich mit meiner Schwester Hermióne verheiratet.«
»Ihr seht ihr nicht ähnlich.«
»Das mag daran liegen, dass sie meine Ziehschwester ist und ich ihr Vetter. Doch das müsstet Ihr wissen.«
»Er ist es«, erklang eine weibliche Stimme hinter dem Vorhang. Nerea blickte hervor.
»Ich sagte dir doch, du sollst dahinter bleiben«, sagte Apollonios.
»Es gab Gerüchte, dass du tot seist!«, sagte ihre Ziehmutter, die sie lauernd ansah.
Lysandra zwang sich zu einem Lächeln. »Das dachte ich zuerst auch, aber offenbar irrte ich mich. Wer sagt, dass ich tot sei?«
Lysandra hielt es für ein Gerücht, dass Damasos so etwas gesagt haben soll. Es war sehr unwahrscheinlich, dass eine
Weitere Kostenlose Bücher