Der Kuss des Greifen
Gebüsche und miaute leise. Lysandra hatte gar nicht bemerkt, dass sie weg gewesen war.
»Willst du mir etwas sagen?«, fragte Lysandra.
Die Katze miaute erneut. »Cel ist jetzt auf der anderen Seite des Hauses, schnell!«, sagte Sirona mit rauer Stimme.
Sie liefen um die Häuserecke. Tatsächlich winkte ihnen Cel von einem der Fenster aus zu. Zusammengeknotete Bettwaren hingen bis zum Boden hinab. Da der Garten von einer Mauer umgeben war, würde sie wenigstens keiner sehen. Wollte Cel die Pythia dazu bringen, hieran herunterzuklettern?
Cel zog etwas hinter sich her. Nein, nicht etwas, sondern jemanden: Kore!
Lysandra kniff die Augen zusammen, um im schwachen Mondlicht besser sehen zu können. Er hatte sich die äußerst beleibte Frau über die Schulter geworfen und versuchte mit ihr an dem provisorischen Strang hinabzuklettern. Wenn das nur gut ging!
Lysandra starrte angestrengt in die Höhe. Als Cel etwa zur Hälfte hinabgeklettert war, riss die Bettware entzwei und beide fielen hinab in den Garten. Glücklicherweise dämpfte etwas ihren Aufprall. Aiolos und Lysandra eilten schnell zu ihnen. Die Frau lag über Cels Rücken, der mit der Vorderseite auf einem Komposthaufen gelandet war.
Lysandra beugte sich über ihn. »Cel? Bist du verletzt?«
»Weiß nicht. Rollt sie von mir herunter.« Sein Atem ging keuchend, doch zumindest lebte er noch.
Lysandra und Aiolos zerrten mit vereinten Kräften die Frau von ihm herunter, die in der Tat recht beleibt war. Zwar versuchte Kore allein aufzustehen, doch fiel es ihr sichtlich schwer, da ihre Hände gefesselt waren. Zudem war sie geknebelt. So zog Aiolos sie hoch. Kore trug ein Himation über dem wie ein ärmelloses Trägerkleid drapierten Chiton. Ein Stück des Himations bedeckte ihr polanges Haar. Offenbar hatte sie keine Zeit gehabt, es hochzustecken.
Kaum stand Kore, versuchte sie auch schon, ihnen zu entkommen.
Lysandra hielt sie am Unterarm fest. »Hier geblieben!«
Cel erhob sich ächzend und klopfte Kompost und Regenwürmer von seiner Kleidung. »Ich fühle mich, als wäre eine Horde Kühe über mich drüber gelaufen.« Er streckte sich. »Scheint nichts gebrochen zu sein. Jetzt nichts wie weg von hier, bevor jemand Verdacht schöpft. Und Ihr, Pythia, wagt es nur nicht zu fliehen.« Cel zog Kore mit sich.
Aiolos lief voran, gefolgt von den anderen. »Was machen wir mit den Wächtern des Heiligtums?«
»Ich habe schlagkräftige Argumente, denen sie sich nicht widersetzen können«, sagte Cel.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Aiolos, der, wie Lysandra auffiel, die am wenigsten benutzten Wege wählte. Hin und wieder mussten sie stehen bleiben, weil ihnen jemand entgegenkam. Dank der Dunkelheit erreichten sie bald unbehelligt die Straße, an welcher der Eingang des Apollon-Heiligtums lag.
Cel überließ Kore Lysandra. Offenbar hatte die Pythia Angst vor dem Keltoi, denn sie unternahm keinen weiteren Fluchtversuch. Cel lief zu den beiden Wächtern, die in gelangweilter Pose auf Baumstümpfen saßen. Dies musste eine sehr eintönige Aufgabe sein.
Sie starrten Cel an.
»Barbaren werden hier nicht eingelassen«, sagte der einer der Wächter, als Cel direkt vor ihnen stand.
»Ihr habt einen Regenwurm im Haar«, sagte der zweite.
Ehe sie sich versahen, hatte Cel sie beide bewusstlos geschlagen. Er schüttelte den Kopf. »Die halten nichts aus«, sagte er. »Hätten wir uns unter Brennos nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, würde Delphoí jetzt uns gehören.« Cel winkte Lysandra und Kore zu, doch die Pythia weigerte sich weiterzugehen. Cel eilte zu ihnen, um die Seherin über seine Schulter zu werfen.
Lysandra hoffte, dass die Anstrengungen und Gefahren, die sie auf sich nahmen, lohnenswert sein würden.
»Ich bleibe hier beim Tor, für den Fall, dass die Wächter aufwachen oder jemand vorbeikommt. Nehmt das Kästchen mit den Zauber-Utensilien mit, falls die Pythia es brauchen sollte.« Aiolos überreichte es letzteres Cel und stellte sich in den Schatten neben dem Tor. Neben ihm stand die weiße Katze.
»Du kommst mit, Sirona. Es kann sein, dass ich dich brauche«, sagte Cel.
Lysandra folgte Cel, Kore und Sirona an den Säulen am Eingang des Tempels vorbei ins Innere. Dort fand sie eine Öllampe, die sie entzündete.
Cel ließ die Pythia herunter. »Ich rate Euch, nicht zu schreien.«
Als sie nickte, entfernte er ihren Knebel sowie die Fesseln.
»Es gibt eine Warteliste, in die Ihr Euch eintragen müsst!«, sagte Kore empört.
»Das
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