Der Kuss des Greifen
Zauber verwendet wurden.« Cel überreichte es ihr.
Kore öffnete es und entnahm ihm die Gegenstände. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen als sie die mit hellem Haar umwickelte Statuette ins flackernde Lampenlicht hielt. »Das dürfte interessant werden. Ich muss jetzt in mich gehen und auf eine Eingebung warten.«
Kore wiegte sich leicht hin und her, wobei ihr polanges, von weißen Strähnen durchzogenes schwarzes Haar um sie herum wehte. Ihr Blick wurde unfokussiert. Sie wirkte entrückt.
Nach einigen Minuten stimmte sie einen seltsamen Singsang an. Sollte dies gar bereits der Orakeltext sein, dem man Unverständlichkeit nachsagte?
Cel trat näher zur Pythia. »Sprecht deutlicher, damit ich Euch verstehen kann.«
Kore sah ihn abfällig an. »Es ist kein Fluch, sondern ein Zauber, der auf Euch liegt.«
»Ich empfinde es aber als einen Fluch, tagsüber in die Gestalt eines Greifen gebannt zu sein und für Sirona ist es noch schlimmer: Sie altert in der Geschwindigkeit des Tieres, in dessen Leib sie gezwungen wurde. Bevor sie die Blüte ihrer Menschenjahre erreichen würde können, wird sie schon lange dahingewelkt sein.«
»Wohl wahr. Doch wenn Ihr vom Zauber erlöst seid, so wird es auch Eure Schwester sein. Ich selbst kann Euch leider nicht helfen, denn er scheint von einem wahren Meister gewoben zu sein. Ich bin eine Seherin, keine Löserin von Zaubern. Wer ist sie?«
»Ihr Name war Creusa. Bis vor etwas über einem Jahr lebte sie in Delphoí.«
»Diese Creusa kenne ich nicht, obwohl ich von den meisten Sehern hier weiß, auch von Eurem Begleiter Aiolos.«
»Ihr werdet ihn doch nicht etwa verraten? Ich habe ihn gezwungen, hier dabei zu sein. Er ist ebenso unschuldig wie Ihr.«
»Solange Ihr mich zurückbringt und keinem Menschen von dem Aufenthalt hier erzählt, wird auch nichts über meine Lippen kommen. Wie ich sehe, seid Ihr verzweifelt in Eurer Notlage. Seid Ihr sicher, dass diese Creusa, falls dies überhaupt ihr richtiger Name ist, aus Delphoí stammt oder überhaupt ein Mensch ist?«
»Das weiß ich eben nicht. Niemand hier kennt ihren Namen. Dieses Weib ist vor einem Jahr spurlos verschwunden. Ein Geist war sie auf jeden Fall nicht.« Das wüsste er, denn diese Wesen besaßen wenig Substanz.
Kore selbst wirkte verwirrt. »So etwas habe ich noch nie gehabt. Auch diese seltsamen Visionen noch nicht.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sprecht, Frau, was habt Ihr gesehen?« Ungeduld lag in Cels Stimme.
»Das Tor im Westen.«
Cel starrte sie an. »Was ist damit gemeint?«
»Ihr müsst es durchqueren.«
»Drückt Euch deutlicher aus.«
»Ich drücke mich bereits weitaus deutlicher aus als üblich.« Kore sah ihn streng an. »Fahrt über das Meer bis zum Tor des Westens, überquert die Flüsse und die Felder der weißen und violetten Blumen. Ihr braucht sie, die sich ausgibt für einen Mann, denn sie vermag dieses Tor zu öffnen. Nur in jenem Reich findet Ihr Eure verlorenen Jahre wieder.«
»Nur sie?«
»Es gibt ein paar andere, doch wenige. Sie zu finden, dürfte zu lange dauern für Euch. Außerdem müsste es jemand sein, dem Ihr einigermaßen Vertrauen schenken könnt.«
»Wie werden wir den Zauber lösen können?«
»Das Gesuchte ist im Palast des Westens. Mehr weiß auch ich leider nicht. An der schwarzen Schwelle endet meine Sicht.« Kore stieg vom Dreifuß herab und erklomm die Stufen. »Jetzt bringt mich nach Hause.«
»Das sind sehr verschwommene Aussagen«, sagte Sirona.
Kore lachte. »Sie sind die klarsten, die ich jemals geäußert habe. Normalerweise muss man eine dramatische Darstellung für die Leute bieten, die erwarten das und ich will sie ja nicht enttäuschen. Seid also nicht undankbar und bringt mich zurück, bevor ein Unglück geschieht.«
Sie verließen das Heiligtum. Am Tor erwarteten Aiolos und Lysandra sie.
Cel fragte Lysandra, was die Hellenen unter dem Tor des Westens verstanden.
»Tor des Westens? Ist dort nicht der Eingang ins Totenreich? Odysseus ist doch übers Meer gefahren, um dorthin zu gelangen.«
»Wer ist Odysseus?«
»Ein Mann aus einer der Sagen, die bei den Pythischen Spielen vorgetragen werden«, sagte Lysandra.
»Totenreich? Dieser Odysseus ist ins Reich der Nantosuellta gereist, unserer Göttin des Todes, der Fruchtbarkeit, der Erde und des Feuers?«
Kore schüttelte den Kopf. »Hier auf hellenischem Boden zählen nur unsere Mythen.«
»Was soll der Tod mit dem Zauber zu tun haben, der auf Sirona und mir liegt?«
Kore hob die
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