Der Kuss des Greifen
weiß ich, doch habe ich nicht die Zeit, um monate- oder gar jahrelang zu warten, weil die Hellenen immer den Barbaren vorgezogen werden. Jetzt kommt mit und zeigt mir das Innerste.«
Kore schüttelte den Kopf. »So geht das nicht. Ich brauche Kultpersonal und zwei Orakelverkünder. Außerdem müssen zuerst die Reinigungsriten erfolgen und das Voropfer. Wir brauchen Opfertiere und …«
»Das ist ein Notfall. Ich werde später ein Opfer für die Götter erbringen. Die werden das sicher verstehen.«
Lysandra betrachtete die Pythia. Kore musste fast sechzig sein. »Irgendwie hatte ich mir Euch anders vorgestellt, als Jungfrau des Apollon«, sagte Lysandra.
Kore räusperte sich. »Seit man eine von uns geschändet hat, nimmt man nur noch Frauen über fünfzig für dieses Amt. Außerdem ist da noch die Weisheit des Alters.«
Cel grinste. »Auf die ich zähle. Also lasst uns jetzt endlich hineingehen oder ich zerre Euch hinein. Ihr könnt es Euch aussuchen.«
»Nachdem Ihr mich als Kuh bezeichnet habt, bildet Ihr Euch ein, ich würde Euch helfen?«
»Ich sagte nur, ich würde mich fühlen, als wären Kühe über mich drüber getrampelt, nicht, dass Ihr eine Kuh seid. Solltet Ihr dies dennoch auf Euch beziehen, so entschuldige ich mich. Diese Worte tun mir leid. Sie sind mir herausgerutscht, nachdem Ihr auf mich gefallen seid und mir beinahe sämtliche Rippen gebrochen habt.«
»Ihr seht aber relativ unversehrt aus, bis auf den Regenwurm im Haar. Das alles hätte sich vermeiden lassen, hättet Ihr mich nicht aus meinem Haus entführt. Wenn jemand davon erfährt, ist mein Ruf ruiniert. Womöglich darf ich nicht mehr als Pythia arbeiten. Einzig mein fortgeschrittenes Alter kann mich jetzt noch schützen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum sollte Euer Ruf ruiniert sein?« Er zupfte sich den winzigen Wurm aus dem Haar und warf ihn neben den Weg.
»Jede Frau, die sich aus dem Haus traut und damit den Blicken der Männer ausliefert, steht im Ansehen so hoch wie eine Hure.«
»Das sehe ich nicht so. Bei meinem Volk ist das anders.«
Kore sah ihn erstaunt an. »Wie interessant. Nun, jetzt muss ich zuerst die rituellen Waschungen durchführen und von der heiligen Quelle trinken.«
»Dann tut das, aber ich bleibe dabei.«
Die Pythia lächelte nervös. »Nun, vielleicht geht es auch ohne die rituellen Waschungen. Aber das Ganze könnte meinem Ruf enorm schaden, sollte jemand davon erfahren.«
Cel seufzte. »Dann beeilt Euch, damit wir Euch zurückbringen können. Je kürzer Ihr hier seid, desto geringer ist die Gefahr, erwischt zu werden.«
Die Pythia trank von der heiligen Quelle, die der Mitte des Tempels entsprang.
»Nur Ihr sollt mit ins Heiligtum kommen«, sagte Kore, als sie sich wieder erhob. »Zu viele Menschen lenken mich nur ab.«
»Die Katze bleibt bei mir, denn sie ist auch vom Zauber betroffen. Lysandros, wartest du bitte bei Aiolos?«
Sie bemerkte, wie Kore sie interessiert von oben bis unten musterte. Unter ihrem stechenden Blick fühlte Lysandra sich ertappt. Beinahe erschien es ihr, als würde die Pythia hinter ihre Maskerade schauen.
Lysandra nickte Cel zu und ging hinaus zu Aiolos. Zu gerne hätte sie gewusst, was die Pythia über den Zauber zu sagen hatte.
Cel folgte Kore und Sirona ins Innerste des Heiligtums. Er war aufgeregt, denn er hoffte, kurz vor der Auflösung des Zaubers zu stehen. Kühle, staubige Luft schlug ihnen entgegen. Ein Dreistuhl stand dort in einer Grube, zu der einige Stufen hinabführten.
Kore stieg hinunter und ließ sich auf dem Dreistuhl nieder, der bedrohlich unter ihrem Gewicht schwankte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »So, was wollt Ihr wissen?« Auf ihrem Gesicht war deutlich ihr Missmut zu erkennen.
»Wie werden meine Schwester und ich den Fluch wieder los, der uns in Tiergestalten bannt?«
Kores Blick fiel auf Sirona, in deren Augen sich menschliche Intelligenz abzeichnete.
Sofern die Pythia sich über die Katze oder Cel wunderte, so gelang es ihr, dies zu verbergen. »Ist sie immer eine Katze?« Sogar ihre Stimme verriet nichts, außer dem Missmut, den sie offenbar darüber empfand, entführt worden zu sein.
Cel nickte. »Ja, und ich selbst bin vom Sonnenauf- bis untergang ein Greif. Daher konnte ich auch nicht zu den normalen Besuchszeiten des Orakels kommen.«
»Interessant«, sagte die Pythia.
»Ist dies alles, was Ihr zu sagen habt?«
»Nun seid doch nicht so ungeduldig.«
»Ich habe dieses Kästchen mit Utensilien, die für den
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