Der Kuss des Greifen
Glücklicherweise schliefen sie und Damasos schon seit einigen Stunden. Ihre jüngere Ziehschwester Hermióne vermutlich auch.
Lysandra öffnete die Tür. Zu ihrer Überraschung stand Aiolos dort, im dunklen Gewand und mit einer Holzschachtel in der Hand. Der Hauch eines schweren Parfums wehte ihr entgegen, als er an ihr vorbei ins Haus trat und seinen Blick über die Einrichtung gleiten ließ: die einfachen Regale, den Tisch und die ihn umgebenden Hocker.
»Was führt dich zu mir?«, fragte sie.
»Celtillos. Er wollte dir selbst Bescheid geben, aber offenbar ist er noch nicht da.« Suchend sah Aiolos sich im Raum um.
»Leise. Ich möchte nicht, dass meine Mutter und mein Bruder aufwachen.« Lysandra ließ die Haustür angelehnt, da sie jeden Moment mit Cels Eintreffen rechnete. Dennoch war sie überrascht, als er lautlos eintrat.
Sie starrte den blonden Mann an, der von Mondlicht umhüllt vor ihr stand. Er war unglaublich attraktiv! Er trug diesmal eine Palla über einem langärmligen Obergewand, das in der Farbe nur etwas blasser war als dunkle Beeren, und beigen keltoischen Beinkleidern. Mit der Palla bedeckte er auch sein helles Haar.
»Du müsstest dein Haar etwas kürzen, dunkler färben und auch deine Kleidung anpassen, wenn du nicht auffallen willst«, sagte Aiolos.
Als würde das viel nutzen …
Cel schüttelte den Kopf. »Mein Haar abschneiden werde ich gewiss nicht. Auch habe ich schon blonde Hellenen gesehen, selten zwar, doch es gibt sie. Ihre Götter haben fast alle blondes Haar. Kleider wie ein Weib werde ich gewiss nicht tragen, da laufe ich lieber nackt herum.«
Lysandra grinste. Das wäre sicher amüsant. Sie war froh über seine Entscheidung, sein Haar weder zu färben noch abzuschneiden.
»Wollt Ihr sofort losgehen?«, fragte Aiolos.
Lysandra sah ihn erstaunt an. »Sprecht gedämpft. Ich will nicht, dass meine Verwandten aufwachen. Was habt ihr beide überhaupt vor?«
Cel schlich ungeduldig im Raum auf und ab. »Ich war vorhin bei Aiolos, doch er konnte die Zauber-Utensilien auch durch einen weiteren Versuch nicht auswerten.« Er wandte sich Aiolos zu. »Also, wo wohnt diese Pythia?«
Aiolos zupfte an einer seiner schwarzen Locken. »Es gibt zwei und eine weitere als Stellvertreterin.«
»Umso besser. Dann gehen wir zu der, die hier am nahesten wohnt.«
»So einfach ist das nicht. Zum Wahrsagen müssen wir sie in das Apollon-Heiligtum bringen und das wird bewacht. Doch ihr habt Glück, wir müssen nicht durch das gesamte Heiligtum, da sich der Apollon-Tempel gleich linksseitig des Eingangs befindet.«
»Woher weißt du das?«, fragte Lysandra. »Warst du etwa schon dort?«
»Ich habe ein paar hellenische Pilger gefragt, die im Heiligtum waren. Der Tempel überragt die Außenmauern sogar ein Stück. Wenn du auf einen der Olivenbäume kletterst, siehst du mehr von ihm. Er ist gleich links des Eingangs gelegen.«
»Reden bringt uns nicht weiter. Führe uns zur Pythia«, sagte Cel.
Sie folgten Aiolos zu Kores Haus. Vor der Tür an der Schmalseite des Gebäudes blieb er stehen. »Wie kommen wir an den Dienern vorbei?«
»Gar nicht. Weißt du, in welchem Raum sie schläft?«, fragte Cel.
»Ich war noch nie im Haus, ich vermute jedoch, dass die Frauengemächer im Obergeschoss sind. Es wohnen noch ihre Schwiegertochter und ihr Sohn hier. Wahrscheinlich hat Kore einen der hintersten Räume. Du willst doch nicht etwa …«
»Wie sieht sie aus?«, fragte Cel.
Aiolos kraulte seinen Bart. »Recht beleibt. Um die fünfzig. Schwarzes Haar mit silberweißen Strähnen.«
Cel lief zum Haus.
»Das gefällt mir alles nicht.« Lysandra trat von einem Bein aufs andere.
»Ich mache es auch nicht zum Vergnügen.« Cel kletterte an der Fassade hoch.
»Und wenn man uns hier erwischt?«, fragte Aiolos.
»Es würde helfen, Aiolos, wenn du leiser sein könntest.« Lysandra verlor so langsam die Geduld mit ihm. Auch sie war nervös, doch half das Jammern nicht. Cel war inzwischen durch eines der Fenster ins Haus geklettert und aus ihrem Blickfeld verschwunden. Insgeheim hoffte sie, dass er nicht erwischt werden würde, dieser Leichtsinnige. Wer wusste, ob diese Aktion überhaupt Erfolg versprach. Dennoch würde sie in seiner Lage ähnlich handeln. Ihr fiel auch nichts Besseres ein. Eines musste sie ihm zugestehen: Er war ein guter Kletterer und verstand sich darauf, sich so gut wie geräuschlos fortzubewegen. Ihr Volk konnte einiges von den Keltoi lernen.
Die weiße Katze kam aus einem der
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