Der Kuss des Greifen
Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich konnte nur sehen, dass die Lösung im Haus des Hades liegt. Dieser Ort ist mit allen Zaubern, die jemals gewoben wurden, verbunden. Es ist möglich, dass sich in diesem Haus einige Zauberutensilien befinden. Ihr werdet keinen Seher finden, der weiter sieht als ich. Würdet Ihr mich jetzt bitte zurückbringen?«
»Wo finden wir das Tor zur Unterwelt?«, fragte Cel.
»Segelt immer gen Westen, und wenn Ihr an die Säulen des Gottes gelangt, kämpft gegen die Ströme Poseidons.«
»Sie meint die Meeresströmung«, sagte Lysandra.
Cel nickte. »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.«
»Doch was meint sie mit den Säulen des Gottes?«
Lysandra hob die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht die des Herakles. Er ist ein Heil- und Orakelgott und unser Nationalheld.«
»Ich habe es Euch wirklich leicht gemacht. Erzählt das bloß niemandem. Wir müssen schließlich unseren geheimnisvollen Ruf wahren. Jetzt bringt mich zurück – ohne einen Skandal und ohne, dass jemand davon erfährt! Sonst bekommt Ihr Ärger«, sagte Kore und zog sich den Zipfel ihres Himations tiefer ins Gesicht.
Sie hielten sich im Schatten, während sie die Straßen entlangliefen.
»He, du da. Stehen bleiben, Lysandros!«, sagte ein Mann. Lysandra erkannte ihn an der Stimme, noch bevor er mit seinem Begleiter Linos nähertrat. Sie gehörten zu jenen, die die Belohnung für die Tötung des Drachen verwalteten.
Kore zuckte kaum merklich zusammen und verbarg sich hinter Aiolos. Glücklicherweise war Cels silberblondes Haar vom Stoff des Himations hinreichend verdeckt.
Lysandra wandte sich an ihre Begleiter. »Geh ohne mich weiter.« Sie wollte nicht, dass Kore erkannt wurde.
Cel sah sie an. »Sicher?«
»Ja. Das regele ich schon. Ich möchte nicht, dass sie euch sehen, denn sie sind gefährlich für Drachen und fremde Barbaren.« Was durchaus der Wahrheit entsprach.
Cel verabschiedete sich knapp und ließ sie ziehen.
Lysandra lief zu Nikodemus und Linos hinüber. Zu ihrer Erleichterung starrten die beiden nur sie an und schenkten Cel und der Pythia, die sich noch immer hinter Aiolos verbarg, keine weitere Beachtung.
»Wir haben dich gesucht, Lysandros! Warum hast du dich nicht bei uns gemeldet? Wir dachten schon, du wärst tot oder geflohen, wie die anderen Feiglinge.« Der Vorwurf lag nicht nur in Nikodemos’ Stimme, sondern auch in seinem Blick.
»Ich hatte viel zu tun.«
»Ist der Drache nun erledigt?« Er strich sich mit den Fingern durch das kurz geschorene krause Haupthaar.
»So gut wie.« Lysandra zwang sich zu einem Lächeln.
Nikodemos sah sie misstrauisch an. »Was heißt das?«
»Er ist verletzt und wütend. Daher hat er sich verkrochen, doch ich werde ihn aufstöbern, bevor er noch weiteren Schaden verursachen kann. In ein paar Tagen wird es keinen Drachen mehr hier geben.« Das war der Wahrheit am nahesten. Sie musste verhindern, dass in den nächsten Tagen oder Nächten jemand zur Corycischen Grotte lief und womöglich auf Cel in seiner menschlichen Gestalt stieß. Die Anwesenheit des Keltoi würde nur Fragen aufwerfen, die Lysandra weder beantworten konnte noch wollte.
»Dir ist doch klar, dass dieses Biest nicht nur von hier verschwinden, sondern tot sein muss, sonst kehrt es womöglich zurück oder richtet woanders Unheil an.«
»Es wird kein Unheil mehr anrichten. Hat es denn Menschen getötet?«
»Bisher zwei, sofern die nicht geflohen sind, denn Leichen haben wir keine gefunden. Die können allerdings auch verbrannt sein. Meistens vergreift sich das Ungeheuer jedoch an Ziegen und Schafen.«
Nikodemos’ Blick glitt über sie. »Du siehst mir allerdings bis auf ein paar Schrammen heil aus. Das wundert mich. Immerhin haben wir unsere besten Männer hinaufgeschickt und du bist nur eine halbe Portion.« Lysandra wusste, dass er ihr nicht glaubte. Von Anfang an hatte er sie für einen Angeber gehalten, einen unreifen Jungen, der Angst vor seinem eigenen Schatten hatte. Diesen Ruf hatte sie Nerea und Damasos zu verdanken, die beide jahrelang daran gearbeitet hatten. Lysandra hatte sich von allen Gefahren fernhalten sollen, um Nereas Pläne mit ihr nicht zu durchkreuzen.
»Ich gleiche durch List und Schnelligkeit aus, was andere mir an Kraft voraushaben«, sagte Lysandra. Dass sie gut im Schwertkampf und mit Pfeil und Bogen war, würden sie ihr ohnehin nicht abnehmen. Nicht die Wahrheit wollten die Menschen glauben, sondern ihren eigenen Vorstellungen.
Nikodemos trat
Weitere Kostenlose Bücher