Der Kuss des Greifen
Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. Ein Gefühl drohender Gefahr ließ sie zu ihren Waffen greifen und in Richtung der Schiffsmitte laufen.
Ein weiterer Schrei erklang. Lysandra starrte in die Richtung, aus der sie ihn vernommen hatte. Als der Mond hinter den Wolken hervorkam, sah sie die Angreifer. Es waren schöne Frauen mit langem, im Winde wehenden Haar und entblößten Brüsten, doch besaßen sie die Leiber gewaltiger Greifvögel. Dies mussten die Harpyien sein! Aello, Ocypetes und Kelaino, wenn sie sich ihrer aus alten Sagen geläufigen Namen richtig erinnerte.
Sie erkannte einige Matrosen und ein Stück von ihnen entfernt die in Mondlicht getauchte Gestalt Hirams, den eine von ihnen attackierte. Blut rann über sein Gesicht. Er hatte sein Schwert verloren und seinen Dolch gezogen, doch kam er damit nicht gegen sie an.
Lysandra überlegte, auf ihn zuzueilen, doch sie würde zu spät kommen. Weite Bahnen zogen die Unheilsschwester mit rauschenden Schwingen. Sie flogen übers Meer hinaus, um erneut zuzuschlagen. Anders ließen es die gewaltigen Schwingen wohl nicht zu, ohne dass sie sich in den Segeln oder Tauen verhedderten. Mit dem dadurch gewonnenen Schwung stürzten sie sich erneut auf die Menschen. Gegen die riesigen Klauen kamen die Männer kaum an. Die Krallen waren so groß und scharf wie Dolche.
Lysandra griff nach einem der Brandpfeile, die sie stets bei sich trug. Sie träufelte etwas Öl aus ihrer Lampe darauf, entzündete ihn an selbiger und zielte, so gut sie konnte, auf eine der Harpyien, die gerade einen Bogen über das Meer flog. Sie ließ den Pfeil los und betete zu Apollon, dass es ein Treffer sein möge, die Kreatur es jedoch nicht mehr bis zum Schiff schaffen würde wegen der Brandgefahr. Schmerz durchfuhr sie trotz des Armschutzes, als die Sehne gegen ihren Unterarm schlug.
Zwar traf der Pfeil die Harpyie nicht direkt, doch wie es die Eigenart dieser Geschosse war, blieb er an ihrem Gefieder kleben, das sogleich in Flammen aufging. Das Vieh stürzte sich kreischend hinab in die nachtschwarzen Fluten.
Kurz darauf tauchte es auf, noch immer schreiend und brennend. Wasser vermochte dieses Feuer nicht zu verlöschen. Brandpfeile aus Eisenspänen, Schwefel und Salpeter in einem wachsgetränkten Tuch, getaucht in Lampenöl, und mit Harz versehen, waren eine gefährliche Waffe.
Die Harpyie jedoch konnte mit dem feuchten Gefieder schlechter fliegen. Ihre Unheilsschwestern kamen angeflogen und geleiteten sie zum Festland, wo sie sich gewiss auf der Erde wälzen würde, der einzigen Möglichkeit, die Flammen zu ersticken.
Kurz darauf erklang erneut das Geräusch von Schwingen.
»Die Harpyien! Sie kommen zurück«, rief Hiram. »Ich glaube, sie sind jetzt nur noch zu zweit. Sie fliegen über uns drüber. Was haben sie vor?« Angestrengt starrte er in den Nachthimmel über sich, da fiel etwas Dunkles auf ihn herab und noch mehr davon.
Harpyienkot! Hiram fluchte fürchterlich. Bald lagen etliche Haufen auf dem Deck der Tanith und auch Hiram hatte schon mal besser ausgesehen und vermutlich auch gerochen … Die Harpyien flogen nach vollendetem Werk davon in Richtung des Festlandes.
»Mistviecher!«, rief Hiram ihnen nach. Die Männer starrten ihn an. Einige wandten sich um und husteten, wohl, um ihr Lachen zu unterdrücken, genau, wie Lysandra es tat.
»Erzählt das bloß nicht meinem Vater«, sagte er zu seinen Männer. »Das mit den Seeräubern auch nicht, sonst lässt er mich nicht mal mehr einen Wagen lenken, geschweige denn ein Schiff. Auf zum Deck schrubben! Ich werde mich in der Zwischenzeit waschen.«
Als die Unruhe sich gelegt hatte, lief Celtillos zu Lysandra. Er hatte sich ernsthafte Sorgen um sie gemacht. Sein Respekt für die Hellenin wuchs beständig. Er wünschte sich, auch tagsüber in ihrer Gesellschaft sein zu können, um sie vor drohenden Gefahren zu beschützen. Zwar war sie eine Kriegerin und durchaus in der Lage, auf sich selbst zu achten, doch Kreaturen wie die Harpyien waren selbst für geübte Kämpfer überaus gefährliche Gegner.
Doch dies war nicht der einzige Grund, warum Cel bei ihr sein wollte. Er wollte die gemeinsame Zeit zu nutzen, denn am Ende der Reise würden sich ihre Wege wieder trennen. Ihr Leben fand in Delphoí statt, während er heimatlos war. Wo er hinwollte, wenn dies alles vorbei sein würde, wusste er noch nicht. Womöglich würde er diese Entscheidung Sirona überlassen, doch Delphoí, wo man ihn hatte töten wollen, war gewiss
Weitere Kostenlose Bücher