Der Kuss des Greifen
neben ihr auftauchte. Sein blondes Haar klebte ihm am Leib, den einzig ein um die Hüften geschlungenes Tuch bedeckte. »Sie sind ertrunken, über Bord gespült worden.« Seine sich vor Panik überschlagende Stimme wurde halb verschluckt vom Tosen der Wellen und dem Heulen des Windes. »Halte dich fest. Nein besser: Lass mich dich festbinden.« Cel trat näher zu ihr und wollte ihr gerade einen Strick um den Leib legen – sie spürte seine klammen Finger auf ihrer Haut –, als ihn plötzlich eine Welle erfasste und über Bord riss. Sein letzter Schrei war unterlegt vom Wüten des Meeres. Sie wusste, dass er in diesen tobenden Fluten unmöglich überleben konnte.
Nur mit Mühe konnte Lysandra sich festhalten, doch unaufhaltsam schwanden ihre Kräfte. Die Kälte des Wassers drang ihr durch Mark und Bein, ihre Haut war gewiss schon bleich und kalt wie die einer Toten. Als sie ein Krachen und bald darauf den Ruf eines Matrosen vernahm, dass das Schiff sinken würde, sah sie sich verzweifelt nach dem Rettungsboot um, konnte es jedoch nicht erkennen. Es war ohnehin fraglich, wie und ob sie es erreichen würde.
Sie konnte sich nicht länger festhalten. Eine hohe Welle riss sie über Bord. Es war aus! Niemand würde sie retten, denn jeder war mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Lysandra konnte nur hoffen, dass es schnell ging, denn das Ertrinken war einer der furchtbarsten Wege zu sterben.
Der Nachhall von Celtillos’ Todesschrei in ihrem Geist vermengte sich mit ihrem eigenen, kurz bevor das Wasser sie hinabriss in die Tiefen des Todes. Ihr letzter Gedanke, bevor sie das salzige Nass einatmete, um schneller zu sterben, galt Cel.
Inmitten dieser trostlosen Schwärze spürte sie trotz der nahenden Bewusstlosigkeit plötzlich Arme um sich. Erstaunlich warm war der Leib, an den sie gedrückt wurde.
»Lysandros!«, erklang Cels Stimme.
Das war nicht möglich! Lysandra riss die Augen auf, die sie in Erwartung des Todes verschlossen hatte, und erblickte ihn tatsächlich. Das war unmöglich! Er musste tot sein. Oder war sie bereits in der Totenwelt?
Cel flüsterte ihr Worte der Beruhigung ins Ohr und streichelte ihr sachte über den Rücken und die Wange. Sie befand sich noch auf der Tanith und in Celtillos’ Armen. Keiner von ihnen war nass oder annähernd dem Tode geweiht.
»Aber ich dachte, du …« Lysandra starrte ihn an. Ihr Leib bebte noch von dem erlittenen Schock, doch es beruhigte sie, seinen Herzschlag an ihrer Wange zu spüren. Einen Moment lang schloss sie die Augen und lehnte sich an ihn und genoss seine Wärme, seine Nähe und seinen Duft, dann machte sie sich von ihm los.
»Was ist geschehen?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Du hattest einen Traum.«
Lysandra blickte sich um. Das diffuse Licht der hereinbrechenden Dämmerung beleuchtete das Treiben an Deck. Hiram versuchte, die Unruhe unter seinen Leuten zu besänftigen, die glaubten, dass ein Unglück bevorstehe. Er war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen.
»Du hast geträumt, dass das Schiff untergeht und alle sterben«, sagte Cel.
Lysandra starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
»Alle hatten denselben Traum, auch ich.«
»Wie ist das möglich?« Der Traum war so realistisch gewesen, dass er ihr immer noch nachging.
Er hob die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Hiram mich gesehen hat. Wir werden ihn wohl bald einweihen müssen. Ich hoffe nur, er ist vertrauenswürdig.« Cel küsste sie sachte auf die Wange, löste sich dann jedoch von ihr und ging auf Abstand. Sogleich verspürte sie ein starkes Verlustgefühl.
»Es geht gleich die Sonne auf«, sagte er leise, mit Bedauern in der Stimme.
Lysandra sah den Schmerz in seinen Augen. Er ließ das Tuch fallen, das um seine Hüften gelegen hatte. Unter seiner Haut bewegte sich etwas. Sein Leib begann sich zu verformen, was sehr schnell vonstattenging. Bald sah sie Fell und Federn sprießen. Ein Schnabel und die Klauen bildeten sich. Sie bedauerte es, dass er schon gehen und sie wieder einmal verlassen musste.
»Bis bald.« Celtillos stürzte sich über die Reling. Sein Leib war bereits nicht mehr menschlich. Er war wirklich sehr schnell. Sie sah das kurze Aufglimmen seiner goldenen Schwingen im ersten Morgenlicht. Ein Luftzug streifte sie, dann gewann er rasch an Höhe und verschwand zwischen den Wolken.
Lysandra berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Er hatte sie geküsst … Zwar nur auf die Wange, doch hatte sie dieser Kuss zutiefst
Weitere Kostenlose Bücher