Der Kuss des Greifen
streiften. Sie mochte Hiram sehr, doch sollte er Cels Kuss nicht mit dem seinen auslöschen. Außerdem hatte sie ihre Maskerade als Mann zu wahren. Siedend heiß durchfuhr sie der Schrecken. Er wusste, dass sie eine Frau war, sonst würde er nicht versuchen, sie zu küssen!
Hiram sah ihr tief in die Augen. Sein Atem roch angenehm würzig. Er war ein äußerst attraktiver Mann, dennoch fühlte sie sich körperlich nicht zu ihm hingezogen. Hiram legte seine Hände auf ihre Hüfte und zog sie näher zu sich heran. Lysandras Herz klopfte schneller. Sie legte ihm die Hände auf die Brust, damit er sie nicht vollständig in seine Arme ziehen konnte.
»Du willst mich nicht?«, fragte er leise. Sein Atem streifte ihre Schläfe. Bedauern lag in seinem Blick.
»Ich mag dich, aber ich kann das nicht tun. Es tut mir leid«, sagte Lysandra.
»Ich verstehe.« Er wirkte plötzlich niedergeschlagen. »Ich hatte so gehofft, dass du auch … Ach, vergiss es.«
»Du bist sehr freundlich und siehst gut aus. Ich mag dich wirklich, nur leider nicht so, wie du es dir vielleicht wünscht.«
Beschwörend sah er sie an. »Ich bitte dich inständig, mich nicht zu verraten. Nur die wenigsten wissen, dass ich Männer liebe.«
Lysandra verspürte Erleichterung. Er hatte ihre Maskerade also gar nicht durchschaut!
Sie nickte. »Ich verspreche es dir.« Natürlich würde sie darüber Stillschweigen bewahren.
»Solltest du es dir noch mal überlegen, würde ich mich sehr freuen.« Er wandte sich ab. »Sieh, diese Orangen. Ich werde uns ein paar für den Heimweg pflücken.« Hiram lief zu den Bäumen.
Lysandra vernahm ein leises Plätschern hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie Cels Kopf aus dem Wasser zwischen dem Schilf auftauchen. »Wie war das? Du verkleidest dich als Mann, um vor den Nachstellungen von Männern sicher zu sein?« Er grinste unverschämt.
»Hiram kommt gleich wieder! Versteck dich im Schilf!«
Sie sah ihn wegtauchen in Richtung der Strömung, dann war er verschwunden. Von wegen, die Boier seien kein Volk des Wassers! Er schwamm wie ein Fisch.
Auch war er ungemein schadenfroh, doch glaubte Lysandra kurz vor seinem Abtauchen noch etwas anderes auf seinem Gesicht gesehen zu haben: Eifersucht. Wollte Cel sie so, wie sie ihn wollte, oder hatte sie sich geirrt? Wobei sie froh sein sollte, dass sein Interesse vermutlich nur ihrem Leib allein galt, so bitter die Erkenntnis ihr im ersten Moment erschien, denn es gab keine gemeinsame Zukunft für sie. Er war ein Feind ihres Volkes und sie war gefangen in einer Rolle, die sie nicht spielen wollte, es aber bis an ihr Lebensende musste. Es gab kein Zurück zu ihrer wahren Identität. Niemand würde eine Frau nehmen, welche sich so frei bewegen konnte wie Lysandra, denn damit galt sie in Hellas als unschicklich.
Hiram kam wieder zu ihr und reichte ihr eine Orange. »Lass uns zurück zum Schiff gehen. Wir legen morgen früh wieder ab.«
»So bald schon?«
Hiram nickte. »Belzzasar will den Aufenthalt verkürzen. Außerdem will ich meinen Vater nicht warten lassen. Nicht, dass er sich noch Sorgen um mich macht. Durch den Angriff der Mamertiner sind wir ohnehin später dran als geplant.«
Obwohl Hiram vermeiden wollte, bei Nacht zu fahren, tat er es dennoch. Trotzdem brauchten sie, da sie im Zickzackkurs gegen den Wind segeln mussten, länger als einen Tag bis nach Karthago. Mitten in der Nacht erwachte Lysandra, geweckt durch ein Gefühl von Gefahr, das schwer auf ihr lastete. Der Seegang war unruhig und ließ das Schiff bedrohlich schwanken. Der Wind riss an Lysandras Decke und ihrem Haar.
Sie wagte es nicht, Cels Namen auszusprechen, da sie die Anwesenheit von etwas Fremden spürte. So öffnete sie die Augen nur einen Spaltbreit, konnte jedoch nichts erkennen. Vorsichtig tastete sie nach Cel, doch da war niemand.
Schlagartig öffnete sie die Augen und starrte in die Dunkelheit, konnte jedoch nicht viel erkennen. Sie erhob sich und lief zu Hirams Kajüte. Bevor sie sie erreichte, lief einer seiner Männer ihr entgegen.
»Wir sinken!«, rief er.
In diesem Moment sprühte eine Welle über Deck. Lysandra wurde ganz nass. Sie vernahm trotz des Sturms einen Schrei und ein Plätschern. Wenn sie sich nicht irrte, so war jemand über Bord gegangen. Das Schiff schwankte bedrohlich. Frierend und zitternd rannte sie zur Reling, um hinabzustarren auf die tobenden todschwarzen Fluten.
»Hiram! Damasos!«, rief sie.
»Tot. Alle sind tot!«, sagte Celtillos, der plötzlich
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