Der Kuss des Greifen
nicht der Ort seiner Wahl, um das Leben dort zu verbringen.
»Das war sehr mutig von dir«, sagte er, als er Lysandra endlich erreichte.
»Das war kein Mut, das war Verzweiflung. Zudem habe ich die Tanith in Gefahr gebracht. Wenn die Harpyie in Richtung des Schiffes geflogen wäre, hätte sie es in Brand gesteckt.« Sie erschauerte.
»Auf jeden Fall bin ich froh, dass dir nichts geschehen ist.«
Sie hob den Blick. Cel beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Seine Zunge tauchte in ihren Mund und kostete von ihrem Geschmack und ihrer seidigen Wärme. Lysandra erwiderte seinen Kuss zaghaft mit all der Süße der Unschuld und dem neu erwachten Verlangen. Er spürte ihre Unerfahrenheit. Seine Begierde wuchs von Tag zu Tag. Er wollte diese Frau, doch wusste er, dass er sie nicht haben konnte, allein schon, weil er ein Tier war, noch dazu ein Feind ihres Volkes.
Celtillos zog sie dennoch in seine Arme und genoss ihre Nähe, wenn auch nur für kurze Zeit, bevor sie sich von ihm löste, wohl um ihre Verkleidung als Mann zu wahren. Es missfiel ihm, doch respektierte er ihre Wahl. Gewiss hatte sie ihre Gründe dafür. Ihr Bruder hingegen erschien ihm nicht ganz geheuer.
Cel bedauerte es, dass er den herannahenden Sonnenaufgang spürte. Hastig verabschiedete er sich von ihr und wieder verlor er sich selbst in einem Gewirr aus Federn und Klauen – von jedem Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang ein wenig mehr. Eines Tages würde nichts Menschliches mehr an ihm sein, denn er nahm im Laufe der Zeit auch einige der geistigen Eigenschaften dieses Wesens an, in das er sich verwandelte, was ihn zutiefst beunruhigte.
Noch am selben Tag erreichte die Tanith Karthago. Hiram, seine Männer und auch Lysandra und Aiolos hatten mitgeholfen, die Decks zu schrubben, damit das Schiff sauber war, wenn es im Hafen einlaufen würde. Dies war recht aufwendig gewesen. Auch hatte Hiram aufgrund seines seltsamen Geruches zwei Tage lang allein speisen müssen.
Karthago war gewaltig. Hiram hatte Lysandra einiges über die Stadt erzählt. Sie machte ihrem Ruf als eine der vorherrschenden See- und Handelsmächte des Mittelmeerraumes alle Ehre. Ihr Reichtum und ihre Pracht übertrafen sogar die Roms. Man merkte jedoch auch den starken Einfluss der Hellenen auf ihre Kultur, was sich in den Gewändern, Kunstgegenständen und Gebäuden widerspiegelte. Das unweit gelegene, einst von den Phöniziern aus Tyros erbaute Tunis stand seit jeher in seinem Schatten.
Hiram verabschiedete sich, denn er wollte seinen Vater gleich nach dem Löschen der Ware aufsuchen. Das Indigo beließ er auf dem Schiff, wo er einige Leute zur Bewachung abstellte.
Lysandra war mit Aiolos an Land gegangen, um sich die Märkte anzusehen. Nach der langen Zeit auf dem Schiff tat es gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Die goldenen Halsreifen hatte sie für diesen Zeitraum mit Cels Einverständnis in Hirams Obhut gegeben.
Zwar bedauerte Lysandra es, dass Hiram nicht mir ihr gehen konnte, doch gleichzeitig hatte sie ihm gegenüber gemischte Gefühle seit seinem Versuch, sie zu küssen. Sie musste zukünftige Annäherungsversuche rechtzeitig abweisen. Andererseits hatte er ihr versprochen, diese würden nie mehr vorkommen.
Auch dachte sie an Cel. Wie es mit ihm weitergehen sollte, wusste sie nicht. Eine dauerhafte Beziehung konnten sie nicht eingehen und gewiss wollte er dies auch nicht, zumindest hatte er keine diesbezüglichen Äußerungen gemacht. Sie wusste nicht, ob sie darüber froh oder verstimmt sein sollte. Andererseits war zwischen ihnen nicht viel mehr vorgefallen als ein paar Küsse. Daraus sollte sie nicht voreilig etwas von Bedeutung ableiten.
Um sich von den unerwünschten Gedanken abzulenken, betrachtete Lysandra staunend die Häuser und die Waren auf den Märkten. Hübsche Kleider, Wohntextilien, Wascherde, Gold, Schmuck und andere Luxusgüter waren die Eckpfeiler des hiesigen Handels. Sie mochte die Gerüche nach den vielfältigen Gewürzen, Tees, Parfums und das bunte Treiben, das eine Abwechslung darstellte zu allem, was sie aus ihrer Heimat oder von der Schiffsreise her gewohnt war. Tagelang hatte sie kaum etwas anderes als Wellen, Segel oder die Planken des Schiffes gesehen, vom erfreulichen Anblick Cels spärlich bekleideten Leibes mal abgesehen.
Es wurden neben diversen Textilien und Kunstgegenständen auch Datteln, Mandeln, Kapern, Zitronen, Mandarinen, Pinienkerne, Nüsse, Oliven, Thunfisch und Meeresfrüchte feilgeboten.
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