Der Kuss des Greifen
Die Menschen hier waren wunderschön mit ihrer hellbraunen Haut und dem glänzenden schwarzen Haar. Ihre Sprache verstand Lysandra nicht, doch vernahm sie dann und wann ein paar Gesprächsfetzen auf hellenisch. Viele Nationen waren in der bedeutenden Handelsstadt vertreten.
Im Hinterland wuchsen unzählige Mandarinen-, Akazien- und Eukalyptusbäume. Dattelpalmen säumten die getünchten Gebäude, wo an jeder Ecke emsiges Treiben herrschte.
»Bin ich froh, endlich wieder auf dem Festland zu sein«, sagte Aiolos. »Noch einen Tag länger auf See und ich wäre gestorben.«
»Es ist aber schon viel besser geworden mit deiner Seekrankheit. Offenbar hast du dich daran gewöhnt.«
»Musste ich ja, sonst hätte sie mich dahingerafft.«
Lysandra lächelte. Tatsächlich hatte sich die Übelkeit bis auf gelegentliche Anflüge dank Sironas Kräutermischung gelegt. Dass diese von der weißen Katze stammten, konnte sie ihm natürlich nicht sagen. Er wusste nur, dass eine Frau namens Sirona die Mischung erfunden hatte. Aiolos hatte überschwänglich seine Dankbarkeit kundgetan.
Nach einer Weile wurde Lysandra der Trubel auf den Märkten zu viel. Sie war es offenbar nicht mehr gewohnt, so viele Menschen um sich zu haben, obwohl sie auf dem Schiff auch nie allein gewesen war. Doch dort kannte sie die Leute. Das war etwas anderes. Sie benutzten die weniger frequentierten Straßen, wo sie in Ruhe die Gärten bewundern konnten, wo Palmen und exotische Blumen wuchsen. Die Düfte unzähliger violetter und fuchsiafarbener Bougainvilleas und des Jasmins trug der laue Wind zu ihnen herüber, der Lysandras erhitzte Stirn ein wenig kühlte.
»Es wird Hiram gelingen«, sagte Aiolos. Als Lysandra ihm nicht antwortete, fügte er hinzu: »Sein Vater wird uns zu den Zinninseln mitnehmen. Hiram kann sehr überzeugend sein.«
»Das ist mir auch bereits aufgefallen.« Dennoch war sich Lysandra nicht ganz sicher, ob es ihm auch gelingen würde, auf den eigenen Vater einzuwirken. Mit den eigenen Eltern oder Zieheltern war dies immer eine andere Sache, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
Aiolos strebte auf eine Seitengasse zu.
»Was hast du vor?«, fragte Lysandra.
»Mich erleichtern. Du kannst ja mitkommen. Sicher musst du auch mal.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich warte lieber hier.«
Lysandra drehte sich um und ging einige Schritte in Richtung der Innenstadt, wo sie auf Aiolos warten wollte. Plötzlich presste jemand seine Hand auf ihren Mund und legte einen Arm um ihren Leib. Sie wurde von zwei Männern in eine andere Nebengasse gezogen und in eines der Häuser verschleppt. Dort fesselte und knebelte man sie und brachte sie in einen Raum.
Nach scheinbar endlosen Stunden wurde sie hochgezerrt.
»Willst du was trinken, Junge?«, fragte der Ältere ihrer Entführer, ein phönizisch aussehender Mann mit ergrautem krausen Haupthaar und Halbglatze.
Sie nickte.
»Ich entferne jetzt den Knebel. Wenn auch nur ein einziger Laut von deinen Lippen kommt, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.«
Er löste kurz den Knebel, der andere Entführer hielt derweil seinen Dolch an ihren Hals. An einen Fluchtversuch war nicht zu denken. Auch dankte sie Apollon und Artemis dafür, dass man ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht entdeckt hatte. Doch wie lange würde sie dieses Geheimnis noch wahren können? Was hatte man mit ihr vor?
Man hielt Lysandra einen Trinkschlauch an die aufgeplatzten Lippen. Das Wasser-Wein-Gemisch darin schmeckte schal und abgestanden, dennoch trank sie gierig davon.
Kaum hatte er den Trinkschlauch abgesetzt, knebelte er sie erneut.
»Mitkommen!«, sagte der Mann mit der Halbglatze. Man stieß sie in den Rücken und trieb sie voran wie ein Stück Vieh.
»Ist alles erledigt?«, fragte ein weiterer Mann mit einem langen dunklen Bart. Offenbar handelte es sich ebenfalls um einen Phönizier.
Ihr Entführer nickte. »Ja.«
»Der Junge dort ist ein Hellene?«, fragte der Fremde.
Lysandra schluckte, als sie merkte, dass man über sie sprach.
Ihr Entführer nickte.
»In einer Stunde steht das Schiff bereit. Bis dahin dürfte es dunkel genug sein.«
Menschenjäger! Sie war in der Gewalt von Sklavenhändlern! Mühsam kämpfte Lysandra gegen ihre Panik und die aufsteigenden Tränen an. Ihr Mund war bereits wieder trocken, in ihrem Hals bildete sich ein Knoten. Schweiß brach ihr aus allen Poren. Wo war Aiolos? Vermisste er sie noch nicht? Gewiss suchten sie sie bereits.
Doch konnte er weder wissen, wo sie sich
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