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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Morgan
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durcheinandergebracht. Ihr gesamter Leib bebte. Sie sehnte sich nach weiteren Berührungen von ihm. Lysandra führte die Fingerspitzen zu ihren Lippen und dachte an Cel, dessen Duft noch leicht in ihrem Gewand hing. Sie hob sein Tuch hoch und drehte sich um, als sie Stimmen vernahm.
    Aiolos hing über der Reling und übergab sich. Er war blass, wandte sich jedoch kurz darauf lächelnd zu Hiram um, der ihm einen Becher Wein anbot, an dem er nur kurz nippte. Belzzasar gesellte sich zu ihnen.
    »Kannst du uns das mit den Träumen jetzt erklären?«, frage Hiram den Seher.
    Aiolos, der immer noch blass war, nickte. »Denn es sind, wie man sagt, zwei Pforten der nichtigen Träume«, zitierte er Homer, »eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet. Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn, diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung. Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn, deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.« Sein Gesicht lag im Schatten.
    »Dies bedeutet, es wäre möglich, dass wir alle die Zukunft gesehen haben?«
    »Eine womöglich unabänderliche Zukunft«, sagte Aiolos.
    Belzzasar schüttelte das dunkle Haupt. »Es gibt nichts Unabänderliches.«
    »Es gibt sehr wohl die Schicksalsmächte, die drei Moiren, die einen Teil des Lebensweges für uns vorherbestimmen«, sagte Aiolos.
    »Ein durch und durch beunruhigender Gedanke«, sagte Lysandra. »Mir wäre es lieber, wenn ich Herr über mein Leben wäre.«
    Aiolos sah sie ernst an. »Das bist du auch bis zu einem gewissen Grad. Ich verstehe das Wirken dieser Mächte selbst nicht. Vermutlich tut dies niemand, vielleicht nicht einmal die Götter selbst, außer die Moiren.«
    Das Gefühl, dass sich etwas Böses zusammenbraute, wich nicht von Lysandra. Dazu brauchte sie keinen furchteinflößenden Traum, der sie vermutlich noch tagelang verfolgen würde.
     
     

Kapitel 9
     

     
     
    Die Albträume suchten die Besatzung der Tanith noch in den darauffolgenden beiden Nächten heim, dann war der Spuk so plötzlich vorbei, wie er gekommen war. In ihrer Intensität fühlten sich die Albträume dennoch so reell an wie lebhafte Erinnerungen.
    Bis Karthago war es nicht mehr weit. Lysandra wusste nicht, wie es danach weitergehen sollte. Zwar hatte Hiram gesagt, er würde seinen Bruder bitten, sie auf der Fahrt zu den Zinninseln mitzunehmen, doch war sie sich nicht sicher, ob dieser es auch täte. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, da sie genau dorthin mussten.
    Die Nacht war bereits fortgeschritten, als Lysandra sich mit ihrer Öllampe zum Heck aufgemacht hatte, in der Hoffnung, dort ungestört zu sein. Sie wusch einige ihrer Tücher in einer Schüssel mit Wasser aus. Mehrmals tauschte sie es aus, indem sie mit einem Eimer, der an einem Seil hing, frisches aus dem Meer schöpfte. Dabei ging sie leise vor, um niemanden aufzuwecken. Sie hatte ein Brett zum Abdecken der Schüssel, für den Fall, dass jemand sie dabei überraschte. All diese Dinge stammten noch aus ihrem Besitz im Hause Nereas.
    Auch die meisten ihrer Waffen hatte sie mitgenommen, obwohl sie diese hierbei gewiss nicht brauchen würde. Dies war eine Gewohnheit, die ihr der alte Spartaner Leonidas eingeschärft hatte. Die Tücher würde sie nach dem Waschen mit Nadeln an den Leinen des Schiffes befestigen, damit sie durch den Wind nicht weggeweht werden konnten. In den frühen Morgenstunden würde sie hierher zurückkommen, die Tücher wieder loszumachen und alles sicher verstauen. Durch den Fahrtwind trockneten sie für gewöhnlich sehr schnell – vorausgesetzt, es kam kein Unwetter auf.
    Sie wrang gerade ein Tuch aus – in kaltem Wasser ließ sich Blut seltsamerweise besser auswaschen als in heißem –, als sie das Geräusch gewaltiger Schwingen vernahm. Sie blickte zum nachtschwarzen Himmel empor. War dies Celtillos in seiner Greifengestalt? Aber wie war das möglich? Er hatte doch noch vor einer halben Stunde neben ihr gelegen und geschlafen. Hatte er nicht gesagt, die Verwandlung in das Flügelwesen fände nur bei Morgengrauen statt? Sie schluckte. Er hatte ihr einmal offenbart, dass das Tier in ihm immer mehr an Kraft gewann. Was genau der Zauber auf lange Sicht bewirken würde, wusste niemand von ihnen. War Cel nun vollends für jede Minute seines Lebens in diese Gestalt gebannt?
    Lysandra schob gerade das Brett über ihre Waschschüssel, da durchdrang ein Schrei, der schriller war als der des Greifen, die Nacht. Sie erschauerte, die feinen

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