Der Kuss des Greifen
Lügen waren Cel zuwider, doch wollte er Hiram noch nicht in die besonderen Umstände seiner tagtäglichen Verwandlungen einweihen. Zwar hielt er ihn für vertrauenswürdig, doch ob er dies wirklich war, konnte einzig die Zeit zeigen.
»Ich muss leider bis zum Morgen warten, um mich erneut verwandeln zu können. Dafür kann ich mich schneller fortbewegen als ein Schiff.«
Hiram nickte. »Tut, was Ihr könnt. Mir sind die Hände gebunden. Ich wüsste nicht mal, in welcher Richtung ich suchen sollte. Es wäre sogar denkbar, dass Lysandros ins Hinterland verschleppt wurde, auch wenn ich dies für weniger wahrscheinlich halte. Versucht es zuerst an der Küste.«
Cel nickte. Gedankenverloren sah er Hiram nach, der über Deck lief, mit dem Navigator und dem Schiffskoch sprach und dann weiterging in Richtung Bug.
Die Stunden bis zum Morgen erschienen Cel unendlich lange. Er malte sich Schreckensszenarien aus, die ihn immer wieder aus dem Schlaf rissen. So etwas war ihm seit dem Tod seines Vaters und seines Bruders nicht mehr passiert. Offenbar stand ihm Lysandra bereits näher, als er es sich bisher bereit war einzugestehen. Dies machte alles nur noch schlimmer für ihn.
Die Sonne erhob sich am Horizont und ließ ihn in blutrotem Lichte erstrahlen. Als der erste ihrer Strahlen Cel trotz des Sonnensegels erreichte, erschien er ihm wie eine Flamme, die seinen Leib entzündete. Selbst wenn er sich in einer Höhle verbarg, holte die Sonne ihn dank des tückischen Zaubers ein. Der Schmerz breitete sich rasch aus. Die Verwandlung setzte ein. Unter Aiolos’ Blicken rannte er hinter die Kajüte, wo sich halbwegs ein Sichtschutz befand. Es war ihm gleichgültig, wie es Aiolos gelingen würde, die Mannschaft für diesen Zeitraum von hier fernzuhalten.
»Ich werde ihn suchen«, sagte Cel nach der Umwandlung zu Aiolos, der zu ihm gekommen war, und schwang sich im Schutz der Morgendämmerung, so schnell er konnte, in die Höhe. Cel wollte keine weitere Unruhe in die Mannschaft der Tanith bringen. So hielt er es für besser, so lange wie möglich im Verborgenen zu bleiben. Auch wenn der Greif allgemein als ein Glückssymbol galt, wollte er kein unnötiges Wagnis eingehen. Die Stunde der Wahrheit würde früh genug kommen.
Cel drehte eine Runde hoch oben über dem Schiff, das winzig wirkte, wie es inmitten der glitzernden Wellen gen Hippo fuhr. Er jedoch flog in die entgegengesetzte Richtung. Wenn er Lysandra in Karthago nicht finden würde, so konnte er umkehren und dem Schiff ein Stück vorauseilen. Sollte man sie ins Landesinnere gebracht haben, war es aussichtslos, dass er sie fand. Zu großflächig war das Gebiet und mit zu vielen Bäumen und Sträuchern bedeckt. Sie konnte praktisch überall sein.
Er hätte Lysandra in Delphoí lassen sollen. Bei ihrer Ziehmutter Nerea wäre sie jetzt vermutlich nicht glücklich, doch wenigstens in Sicherheit und keineswegs in Lebensgefahr. Sein Gewissen quälte ihn, auch gegenüber Sirona, die nun vermutlich in wenigen Jahren sterben würde, wie die böse Creusa es prophezeit hatte. Er hasste dieses Zauberweib von Tag zu Tag mehr.
»Bringt ihn von Bord«, erklang eine Männerstimme.
Lysandra öffnete die verklebten Augenlider und blinzelte geblendet ins Sonnenlicht. Staubflocken wirbelten im Lichtstrahl, der durch die offen stehende Tür auf sie fiel. Lysandra wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch sie fühlte sich schlimmer als am Abend zuvor. Gewiss gab es keinen Knochen in ihrem Leib, der nicht schmerzte. Ihre Zunge schien angeschwollen zu sein. Zwar hatte man ihr den Knebel entfernt und ihr etwas faulig schmeckendes Wasser eingeflößt, doch hatte sie noch immer einen brennenden Durst. Zwei ungepflegt wirkende Männer betraten die Kammer. Es war zu spät, sich schlafend zu stellen.
»Sind wir schon da?«, fragte Lysandra.
»Diesmal läufst du selber. Wir sind es nämlich leid, dich immer schleppen zu müssen. Steh auf, du fauler Kerl!«, sagte der jüngere der beiden Männer, ein kleiner Dürrer, den sie noch nie gesehen hatte. Offenbar gehörte er zu den Sklavenhändlern.
Lysandra atmete erleichtert auf, dass sie nicht bemerkt hatten, eine Frau vor sich zu haben.
»Dazu müsstet ihr mich zuerst losbinden«, sagte sie.
Der Mann grummelte etwas Unverständliches, das sich alles andere als freundlich anhörte, nahm dann einen Dolch und schnitt ihr die Fußfesseln durch. Mühsam rappelte sich Lysandra auf. Einer ihrer Füße war eingeschlafen und kribbelte
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