Der Kuss des Greifen
unangenehm.
»Los jetzt. Worauf wartest du?«, rief der andere Mann, ein großer Dicker.
Als Lysandra mit dem eingeschlafenen Fuß auftrat, durchzog ihn ein Schmerz, der glücklicherweise rasch nachließ. Sie humpelte die schmale Stiege hinauf und dann über Deck zum Landesteg, der so schmal war, dass sie balancieren musste, um nicht ins Meer zu fallen. Das Schiff stand in einer natürlichen Bucht, die von außen kaum einsehbar war. Für einen Handelshafen war sie zu klein, was wohl der Grund dafür war, dass sie so ungenutzt wirkte. Vorspringende Riffe und Felsen erschwerten den Bau eines Ortes, doch ein paar halb zerfallene Hütten standen in der Mitte der Bucht. Obwohl Lysandra sich nicht vorstellen konnte, dass in den Hütten noch jemand wohnte, stieg aus einem der Kamine Rauch auf. Stark rußender Rauch, wie er von einem Feuer stammte, das man auf alter Asche oder feuchten Zweigen entzündet hatte.
»Was habt Ihr mit mir vor?«, fragte Lysandra. Sie hatte gedacht, auf einen Sklavenmarkt zu landen, doch keineswegs hätte sie mit dieser Ödnis gerechnet. Ahnten die beiden schmierigen Entführer, dass sie eine Frau war, und wollten sich hier an ihr vergehen, wo niemand ihre Schreie hören würde? Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, hier verkauft zu werden. Sklavenmärkte fanden meist in größeren Städten statt. Sie wich einen Schritt vor den Männern zurück.
Der Dürre grinste schmierig. »Wir haben nichts mit dir vor, obwohl ich an so einem hübschen Knaben wie dir durchaus Gefallen finden könnte. Ah, da kommt sie ja.«
Eine alte Frau kam aus einer der Hütten gelaufen. »Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ich wäre bis dahin tot.«
»Schön wärs gewesen«, sagte der Dicke. »Halts Maul, Alte. Gib uns lieber den Lohn für den Kerl.«
Die Alte blickte Lysandra von oben bis unten an. »Das ist, was ich gesucht habe«, sprach sie leise. »Fesselt ihn an den Beinen! Ich bin eine schwache alte Frau und muss ihn mir erst gefügig machen.« Dazu stieß sie ein meckerndes Lachen aus, das ihren Worten spottete. Ihre gelblichen, schiefen Zähne und das strohige graue Haar wirkten ungepflegt.
Die Männer lachten ebenfalls und gaben zotige Sprüche von sich, dass sie sich durchaus vorstellen konnten, was die Alte mit dem Knaben vorhatte. Sie taten jedoch wie geheißen. Lysandras Gegenwehr war so gut wie wirkungslos. Sie blieb besiegt, gefesselt und mit Tränen in den Augen im heißen Sand liegen.
»Jetzt her mit dem Geld, Alte!«, sagte der Dicke.
»Ihr solltet Euch überlegen, mit wem Ihr so sprecht!« Die Frau reichte den zerlumpten Männern einen Beutel, den diese sogleich öffneten. Geld befand sich darin. Die Männer grinsten gierig, Zahnlücken und braune Stummel offenbarend. »Er gehört Euch«, sagte der jüngere von ihnen. Sie wandten sich ab und liefen zurück zum Schiff, das sogleich den Anker lichtete. Kurz darauf legte es ab und fuhr davon.
Lysandra starrte die Alte an, die auf sie zukam und sich über sie beugte. Sie zog einen scharf glänzenden Dolch aus ihrem Gewand. »Möchtest du mir noch etwas sagen, bevor du stirbst?«
Lysandras Herz blieb beinahe stehen vor Furcht. Sie hatte mit allem gerechnet, doch nicht damit. Die Alte musste des Wahnsinns sein. Wer sonst würde für einen unbekannten Sklaven zahlen, nur um ihn zu ermorden? Lysandra fasste all ihren Mut zusammen. Warum sollte sie schweigen, wenn sie ohnehin so gut wie tot war?
»Was wird das? Ein Ritualmord? Ein Opfer für die Götter?«, fragte Lysandra.
Die Alte lachte, was ihr faltiges Gesicht nicht gerade hübscher machte. Ihr Haar war aschgrau mit einem Stich ins Gelbe.
»Die Götter! Du bist lustig! Als würde es die Götter interessieren, ob du lebst oder stirbst! Die kehren sich einen Scheiß darum!«
»Wer seid Ihr und warum wollt Ihr mich töten?«
»Ich will dich gar nicht töten. Ich tue nur, was mir aufgetragen wurde. Mein Name ist Megaira.«
»Du bist also eine der Erinyen. Wessen Zorn habe ich auf mich gezogen?« Erinye oder nicht. Wenn die sie duzte, konnte Lysandra das auch.
»Das brauchst du nicht zu wissen. Du wirst ohnehin gleich tot sein.« Die Alte hob den Dolch an.
»Halt, ich habe ein Anrecht darauf, zu erfahren, wer sich meinen Tod wünscht.« Lysandra versuchte, das Unvermeidliche hinauszuzögern.
Eine plötzliche, heftige Windböe rauschte an Lysandra vorbei. Klauen schlugen der Alten den Dolch aus der Hand und schlitzten ihren Arm auf. Ihr Blut war schwarz!
Cel ergriff das Weib und
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