Der Kuss des Greifen
zerrten es mit sich durch die Luft. Die Alte schrie und zappelte, doch der Greif ließ nicht von ihr ab.
»Wir werden ja sehen, wer jetzt stirbt«, sagte Cel.
»Du kannst mich nicht töten. Ich bin unsterblich!«
»Das womöglich, doch bist du nicht unverletzbar. Wenn ich so aussähe wie du, würde ich gar nicht unsterblich sein wollen.«
»Das traust du dich nur zu sagen, weil du ein Greif bist. Ich an ihrer Stelle hätte dich nicht in den edlen Greifen, sondern in ein Warzenschwein verwandelt. Oder lieber gleich umgebracht.«
»Du kennst Creusa also doch.«
»Ich kenne keine Creusa.«
»Wer hat mich dann verzaubert?«
»Das weißt du nicht?« Die Alte lachte meckernd. »Dann bist du dümmer als ich dachte.«
»Ich sollte dich für dafür zerfetzen.« Cel ließ das alte Weib ins Meer fallen. Sie tauchte unter, streckte ihr tropfendes Haupt jedoch sogleich wieder aus dem Wasser.
»Das wirst du mir büßen!«, rief sie.
»Sieh lieber zu, dass dich die Haie nicht fressen.«
»Das werden sie nicht wagen.« Die Alte kreischte und schlug um sich, als tatsächlich ein Hai näher schwamm. Ledrige schwarze Schwingen wuchsen plötzlich aus ihrem Rücken. Sie schwang sich sogleich in die Lüfte.
»Wage es nicht, uns anzugreifen«, sagte Cel.
»So weit reicht meine Loyalität nicht.« Die Alte vollführte eine komplizierte Geste mit der Hand, woraufhin schwarzer Rauch sich zu einem Tunnel mitten in der Luft verdichtete. Noch während sie hindurch flog, verblasste das Portal bereits. Letzte Rauchschwaden verzogen sich.
Lysandra blickte ihr nach. »Wie hat sie das nur gemacht?«
»Weiß ich nicht.« Cel landete neben Lysandra. Mit der Klaue schob er ihr den Dolch hin, den er der Alten aus der Hand geschlagen hatte.
»Ich habe Angst, dich zu verletzen, würde ich die Fesseln mit den Klauen zerschneiden.«
Lysandra nickte. Sie umfasste den Dolchgriff mit beiden Händen und säbelte damit an ihren Handfesseln, die sich bald lösten. Mit den Fußfesseln tat sie dasselbe.
»Das war knapp«, sagte Lysandra. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Ich wusste es nicht. Ich folgte nur der Schiffstrecke, wie Hiram es mir geraten hat.«
»Hiram weiß von deiner Greifengestalt?«
»Das ließ sich leider nicht vermeiden. Ich denke jedoch, dass er schweigen wird.«
»Danke, dass du mich gerettet hast.«
»Ich brauche dich«, sagte Cel.
»Ja, ich weiß. Um das Tor ins Totenreich zu öffnen.«
»Es liegt mir etwas an dir selbst, nicht nur als Portalöffnerin, auch wenn du es mir nicht glauben magst und sich unsere Wege wieder trennen werden.«
Lysandra verspürte bei seinen Worten ein warmes Gefühl, jedoch auch ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend. Ihre Augen brannten, doch gelang es ihr, die ungeweinten Tränen zurückzudrängen. Sie wollte und durfte jetzt keiner Schwäche nachgeben.
»Was wirst du tun, wenn wir aus der Unterwelt zurück sind?«, fragte sie.
»Mir zusammen mit Sirona ein Leben aufbauen. Irgendwo in Freiheit, an einem schönen Ort, wo wir sein können, wie wir sind. Und du wirst wirklich nach Delphoí zurückkehren?«
Sie nickte. »Ich muss es tun. Der Schwur.«
»Gewiss, dass du ihn einhalten wirst, verstehe ich, allerdings ist mir unklar, warum du ihn überhaupt geleistet hast.«
»Schuld. Sie hat mich nach dem Tod meiner Eltern als Kind angenommen.«
»Als könntest du etwas dafür.«
»Sie hätte mich nicht nehmen brauchen. Das hat sie selbst oft genug gesagt.«
»Schändliche Worte. Es war ihre Pflicht. Niemand von Ehre oder Mitgefühl hätte das Kind seiner Schwester der Sklaverei ausgesetzt. Hätte Sirona Nachkommen, würde ich mich selbstverständlich um sie kümmern, sollte meiner Schwester etwas zustoßen. Ich werde Sirona entscheiden lassen, wo wir unser Leben verbringen werden.«
»Vermutlich nicht in Delphoí?«
Er schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht in Delphoí. Dort hasst man mich und trachtet mir nach dem Leben.«
Unerwartet und wider Willen empfand Lysandra Traurigkeit bei seinen Worten. Es bestand also nicht die allergeringste Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn jemals wiedersehen würde. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus.
»Vorausgesetzt, wir werden zurückkehren«, sagte er.
»Du bist wirklich sehr befähigt darin, mir Mut zuzusprechen.«
Dabei war es gerade Mut, den Lysandra brauchte, denn ihre Angst vor der Zukunft wuchs von Tag zu Tag. Es war nicht die Furcht vor dem Totenreich oder was auch immer sie dort erwarten mochte, sondern
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