Der Kuss des Greifen
in Richtung der Stadt. Bis zum Hafen war es nicht allzu weit, zudem war Lysandra es gewohnt, viel zu laufen. Immer wieder blickte sie zum Himmel empor. Cel gewann wirklich schnell an Höhe. Von Weitem sah er aus wie ein missgestalteter großer Vogel. Man musste wirklich gut sehen können und aufmerksam sein, um es zu bemerken.
Es dauerte nicht lange, da legte die Tanith an. Hiram, Aiolos und die Mannschaft staunten nicht schlecht, als sie Lysandra am Hafen erblickten.
Lysandra war froh, dass Hiram noch immer die Tanith befehligte. Sollte diese in Karthago nicht von seinem Bruder übernommen werden?
»Wie geht es dir? Ist Cel in der Nähe?«, fragte Aiolos.
Lysandra nickte. »Wir hatten viel Glück. Eine Erinye ließ mich entführen, doch sie war nicht die eigentliche Auftraggeberin. Wer dahinter steckt, konnten wir noch nicht herausfinden.« Lysandra verstand selbst nicht, warum eine Erinye etwas gegen sie haben sollte. Wer hegte so starke Rachegefühle ihr gegenüber? Sie wurde den Verdacht nicht los, dass es mit Cels Vorhaben, zu den Zinninseln zu gelangen, zusammenhing. Irgendjemand wollte ihre Reise sabotieren. Wobei seltsamerweise nicht etwa Cel, sondern sie das Hauptziel der Angriffe zu sein schien. Wie absurd. Was sollte Creusa gegen sie haben? Keineswegs bestand, trotz der gegenseitigen Anziehungskraft, zwischen Cel und ihr eine Verbindung, die über eine zeitlich begrenzte Zweckgemeinschaft hinausging. Was danach aus ihrem Leben wurde, daran wollte sie jetzt nicht denken. Früh genug würde sie sich darum kümmern müssen.
Lysandra ging an Bord, da ihr an Abenteuern in der Stadt nicht gelegen war. Davon hatte sie erstmal genug. Sie erkannte Hiram, der übers Deck schlenderte und in die Ferne blickte.
Lysandra trat zu ihm, um ihn zu begrüßen.
»Willkommen zurück an Bord, Lysandros.«
»Dein Bruder wollte das Schiff also nicht übernehmen?«, fragte sie.
»Er hat sich ein Bein gebrochen. Darum werde ich weiterhin die Tanith befehligen und mit euch zu den Zinninseln fahren.«
»Es tut mir leid, dass dein Bruder sich das Bein verletzt hat.«
»Manche Dinge sind wohl Schicksal.« Hiram schnupperte in die Luft. »Hier riechts irgendwie nach Kamel. Das kommt ja aus deiner Richtung.«
Lysandra lächelte. »Äh, ja, diese Decke riecht danach.« Sie legte sie beiseite, da sie mittlerweile nicht mehr so sehr fror.
»Ich befürchte, du hast den Geruch angenommen«, sagte Hiram.
Warum hatte Cel keine andere Decke genommen? Musste er die übelriechendste nehmen?
Hiram lächelte. »Wird schon wieder verfliegen. Gibt Schlimmeres. Entschuldige mich bitte. Ich muss noch was mit meinen Leuten besprechen.« Er winkte ihr zu und verschwand.
Lysandra schlenderte übers Schiff. Sie war froh, wieder hier zu sein und glücklicherweise nur mit dem Schrecken davongekommen zu sein. In den letzten Stunden hatte sie eine unheimliche Angst ausstehen müssen. So etwas wollte sie nie wieder erleben, doch hatte sie zuvor gewusst, dass eine Reise immer mit Gefahren verbunden war.
Damasos stand an der Reling; ein hässliches Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Na, wollten dich nicht mal die Sklavenhändler?«
»Glücklicherweise nicht.« Keineswegs wollte sie ihm die Details ihrer Rettung sagen. Sollte er doch von ihr denken, was er wollte.
Seine Augen, in denen sein Hass deutlich erkennbar war, verengten sich zu Schlitzen. »Zumindest hätte es mir einen Vorwand gegeben, die Tanith zu verlassen. Jetzt muss ich meine Zeit weiterhin mit dieser sinnlosen Reise vergeuden, nur weil du Nerea diese Sache eingeredet hast.«
»Ich habe ihr gar nichts eingeredet. Aber du hast recht, es wäre besser gewesen, ich wäre einfach abgehauen, doch hätte ich dies als ehrlos empfunden. Ich habe eine gewisse Verantwortung und Schuld ihr gegenüber. Es tut mir leid, dass sie dich hineingezogen hat und du dadurch hier sein musst. Das wollte ich wirklich nicht«, sagte sie.
Er hob eine Augenbraue. »Ach, es tut dir leid? Belügen kann ich mich selbst. Als ich erfuhr, dass du entführt wurdest, habe ich mir gewünscht, dass sie dich als Arbeitssklaven verkaufen, dann müsstest du endlich mal richtig was arbeiten und hättest deine dürre Statur nicht als Ausrede verwenden können. Du warst doch immer Nereas Liebling.«
Wenn er wüsste … » Das bezweifle ich. Im Gegenteil, ich dachte immer, sie bevorzugt dich.«
Damasos schnaubte wütend. »Nicht mal das weißt du zu schätzen. Weißt du denn gar nicht, was sie alles für dich getan hat?
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