Der Kuss des Greifen
akzeptierte sie es und nahm mit Damasos und Aiolos vorlieb. Arishat schien Lysandra für zu jung zu halten, als dass sie interessant für sie wäre, was ihr jedoch ganz recht war. Einen dreisten Annäherungsversuch hätte ihre Verkleidung wohl nicht standgehalten. Es war ohnehin ein Wunder, dass sie bisher damit durchgekommen war. Hiram hingegen hatte sich ihr wie versprochen nicht mehr körperlich genähert. Der damalige Vorfall hatte ihr freundschaftliches Verhältnis glücklicherweise nicht getrübt.
Der Wind wurde plötzlich kühler und ein Grauschleier zog über das Firmament. Lysandra blickte fröstelnd über das Deck, wo die Männer ihrer Arbeit nachgingen.
»Es zieht ein Sturm auf. Geht lieber in die Kajüte«, sagte Belzzasar zu Arishat, die sich daraufhin mit ihrer Dienerin dorthin zurückzog.
Hiram ließ die Segeln einholen. Der Wind wurde stärker und peitschte Lysandra das Haar ins Gesicht, sodass sie es mit einem Lederband zusammennahm. Angestrengt blickte sie hinaus auf das tobende Meer. Das Schiff wurde von meterhohen Wellen bedrohlich hin- und hergeworfen. Der Mast über Lysandra ächzte, sodass sie befürchtete, er würde umstürzen. Meerwasser wurde über das Deck gespült. Das Szenario erinnerte sie auf erschreckende Weise auf den Albtraum, der sie alle heimgesucht hatte.
Verzweifelt versuchten sie, den Kurs zu halten, während das Schiff immer weiter aufs Festland zugetrieben wurde.
»So einen Sturm, der noch dazu so plötzlich kommt, habe ich schon lange nicht mehr erlebt«, rief Belzzasar in das Heulen des Windes. Nur mit Mühe konnte Lysandra seine Worte vernehmen. Er wandte sich ihr zu. »Halt dich gut fest, Lysandros. Bei solchen Stürmen sind schon manche über Bord gespült worden.«
Als müsste er ihr dies sagen. »Rufe deine Winde zurück, wenn du schon den Namen des Windgottes trägst«, rief sie Aiolos scherzhaft zu.
Dieser schüttelte den Kopf. Sein Haupthaar und der Bart waren nass, Tropfen liefen über seine Haut. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, das ist kein gewöhnlicher Sturm.«
Eine besonders hohe Welle schüttelte das Schiff durch. Beinahe hätte Lysandra den Halt verloren. Am liebsten wäre sie nach unten zu den Ruderern gegangen, doch waren diese am gefährdetsten, sollte das Schiff sinken.
Sie sah Aiolos an. »Kein gewöhnlicher?«
Eine Wasserfontäne schoss über Bord und benässte sie. Lysandra strich sich Wassertropfen und das Haar aus dem Gesicht.
»Meinem Gefühl nach nicht«, sagte Aiolos. »Dazu ist außerdem schon zu viel Ungewöhnliches passiert auf dieser Reise. Wir bringen Hiram gar kein Glück auf seiner ersten großen Fahrt.«
Lysandra nickte. Sie verspürte Gewissensbisse, Hiram das Leben so schwer zu machen. Doch wie sollten sie sonst zu den Zinninseln gelangen, die so weit im Westen lagen, dass dort das Tor zur Unterwelt vermutet wurde?
Sie musste dem Wahnsinn verfallen sein, sich auf eine solche Reise zu begeben. Vermutlich wollte Nerea sie nur loshaben und sich Damasos, der seinem herrischen Vater von Tag zu Tag ähnlicher wurde, bei dieser Gelegenheit ebenfalls vom Hals schaffen.
Erstmals verspürte Lysandra Angst um ihr Leben und das aller Beteiligten. Verdammt, sie musste noch die Unterwelt aufsuchen. Vorzeitig versterben würde sie auf gar keinen Fall! Wobei ersteres ohnehin Wahnsinn war. Kein normaler Mensch betrat freiwillig die Totenwelt, doch sie hatte ihr Versprechen gegeben. Danach würde sie nach Delphoí zurückkehren, weil sie es geschworen hatte.
Jetzt musste sie nur noch die Reise überleben.
»Wenn wir zu nahe an die Küste geraten, zerschellt das Schiff. Das Meer ist dort nicht tief genug.« Hirams Stimme bebte. Wassertropfen rannen über sein Gesicht. Falten der Anstrengung hatten sich trotz seiner Jugend heute um seinen Mund herum gegraben. Lysandra verspürte Mitgefühl für ihn.
Die Tanith wurde von Wind und Wellen immer näher an die Klippen herangespült. Lysandras Herz schlug schneller, auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die sie mit einer fahrigen Handbewegung wegwischte.
»Lenkt dagegen!« Hirams Stimme klang verzweifelt. Die Ruderer keuchten und strengten sich noch mehr an. Der Wind heulte. Erbarmungslos peitschten die Wellen das Schiff und seine Besatzung.
»Bei Boreas und bei Zepyhros. Ist das nicht der Gryphon?«, fragte Aiolos.
Lysandra blickte hoch zum Himmel, wo goldene Schwingen den Sturm durchbrachen. Er wirkte majestätisch und gefährlich, doch auch an seinem Gefieder zog das Unwetter
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