Der Kuss des Greifen
Himmelsrichtungen.« Der Nympherich wandte sich um und tänzelte mit schwingenden Hüften davon.
Die Nymphe mit dem geheimen Namen zuckte lächelnd mit den Achseln, nickte ihnen zu und galoppierte davon in Richtung des Asphodelnfeldes, wo sich mittlerweile einige der Toten zusammengerottet hatten. In gebührlichem Abstand zu ihnen blieb das geflügelte Ross stehen und zupfte genüsslich an den hellvioletten Blüten.
»Esst nichts in der Unterwelt«, sagte Aiolos, »sonst seid ihr auf ewig an diesen Ort gebunden.«
»Glücklicherweise habe ich einige Vorräte für uns mitgenommen. Nicht, dass ich die Absicht habe, diese Blumen zu essen«, sagte Cel.
»Welch seltsame Nymphe war das?«, fragte Lysandra.
»Wenn der Kerl eine Nymphe ist, dann bin ich Aphrodite höchstpersönlich«, sagte Aiolos. »Vielleicht sind die alle dem Irrsinn verfallen. Kein Wunder, wenn sie hier nur Blumen zu Essen bekommen.«
Cel nickte. »Ein Grund mehr, meine Schwester vor einem vorzeitigen Tode zu erretten.«
Aiolos räusperte sich. »Unterschätzt die Leute hier nicht. Nur weil jemand harmlos oder seltsam aussieht, heißt das nicht, er wäre ungefährlich. Das alles ist mir nicht ganz geheuer.«
»Denkst du, uns?«, fragten Lysandra und Cel wie aus einem Mund.
»Wo finden wir das, was den Zauber brechen soll?«, fragte Sirona.
»Laut Kore im Haus des Todes. Lysandros meinte, damit wäre das Haus des Todes gemeint«, sagte Cel.
Aiolos nickte. »Das vermute ich ebenfalls.«
»Dann sollten wir uns zu diesem Haus auf dem Weg machen«, sagte Sirona, die bereits loslief.
Cel sah sie nachdenklich an. »Ich bezweifle, dass Hades uns gerne dort sehen wird.
»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Aiolos, »sehr, sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil werden wir viel Ärger bekommen, wenn er uns aufgreift.«
»Dann wird er uns eben nicht aufgreifen. Hoffentlich erzählen diese Nymphen ihm nicht von unserer Ankunft. Zumindest haben wir ihnen nicht unsere Namen genannt, auch wenn dies unhöflich war.«
Aiolos grinste schief. »Lieber unhöflich als tot.«
Kapitel 19
»Ist das hier ein trostloser Ort«, sagte Lysandra.
Stundenlang waren sie über die Asphodelnfelder gelaufen. Sie waren mittlerweile zu dem Bereich vorgedrungen, wo die gewöhnlichen Verstorbenen residierten, deren Lebensumstände nichts Besonderes aufwiesen.
Bis auf die beiden Nymphen und die Schatten der Toten war ihnen bisher niemand begegnet. Letztere gingen an geisterhaften Gerätschaften ihrem stumpfsinnigen irdischen Alltag nach, wie sie es wohl schon während ihres Lebens getan hatten. Sie waren darin so versunken, dass sie Lysandra und ihren Gefährten kaum Beachtung schenkten.
Aiolos nickte. »Mir ergeht es genauso. So langsam schlägt dieser Ort mir aufs Gemüt!«
»Wenn wir nur wüssten, wo dieser Palast sein soll. Selbst die Pythia konnte es mir nicht sagen«, sagte Cel. »Vielleicht sollten wir jemanden fragen. Besser, als noch länger hier herumzuirren.«
Lysandra sah ihn besorgt an. »Aber dann wird Hades erfahren, dass wir hier sind.« Cel war in seiner Greifengestalt alles andere als unauffällig.
»Das wird er ohnehin früher oder später. Wenn er es nicht bereits weiß«, sagte Aiolos.
Cel schüttelte seinen Adlerkopf. »Das glaube ich nicht. Soweit ich weiß, duldet er keine Lebenden in seinem Reich. Gewiss wäre er sonst schon aufgetaucht. Sein Reich ist schließlich sehr groß.«
»Womöglich werden uns die Toten nicht an ihn verraten – schließlich waren auch sie einst Menschen«, sagte Sirona.
»Sofern sie sich daran erinnern.« Zweifel überkamen Lysandra, als sie die stumpfsinnig vor sich hinarbeitenden Schatten der Toten betrachtete.
Aiolos ging auf eine tote, alte Frau zu, die an einem Spinnrad saß. »Verehrte Dame, wir suchen das Haus des Hades. Könntet Ihr uns bitte den Weg dorthin weisen?«
Die Alte antwortete nicht.
Er wiederholte seine Frage. Sie brummelte etwas Unverständliches, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Wo finden wir das Haus des Hades?«, fragte Aiolos mit Ungeduld in der Stimme.
Die Frau antwortete ihm nicht. Aiolos trat noch näher zu ihr heran und berührte ihre Schulter. Seine Hand glitt dabei ein Stück durch sie hindurch. Kurz blickte sie irritiert auf, um sich sogleich wieder dem Spinnen zu widmen.
Sichtlich enerviert wandte Aiolos sich seinen Begleitern zu. »Es ist, als würde sie mich nicht richtig wahrnehmen.«
»Die Toten«, vernahm Lysandra eine Frauenstimme, »verlieren ihr
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