Der Kuss des Greifen
Mäuler. Er kam direkt auf Lysandra zugeprescht, die glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben. Sie sah sich im Geiste schon am Boden liegen. Zerfleischt, in einer Lache aus Blut.
Lysandra sprang zur Seite, doch nicht schnell genug. Die Kreatur riss sie zu Boden und rannte über sie hinweg. Lysandra rappelte sich auf. Als sie sich umwandte, sah sie die Schlangenfrau Echidna, die den Höllenhund freundlich begrüßte.
»Mein Sohn«, sagte Echidna, die dem Tier liebkosend über die Häupter strich. Kerberos sah sie aus treuen Hundeaugen an und leckte ihr über die Hände und das Gesicht.
An Cels, Aiolos und Sironas Blicken erkannte Lysandra, dass diese ihre eigene Fassungslosigkeit teilten.
Echidna sah Aiolos an. »Nun bin ich dir nichts mehr schuldig. Solltest du allerdings gelogen haben, Phönizier, so werde ich dich jagen, du wirst erlegt werden wie ein Reh vom Jäger. Nun geht schon hinein, bevor sie euch erwischen.« Die Schlangenfrau deutete in die Ferne, wo Gorgonen und Kentauren sich ihnen näherten. Harpyien kamen angeflogen.
Kerberos schien von alledem wenig zu bemerken. Wie ein Schoßhündchen schmiegte er sich an seine Mutter, deren Monsterleib klein und zierlich gegen den seinen wirkte.
»Schnell hindurch, solange das Familientreffen währt«, flüsterte Cel Lysandra zu.
Sie nickte und beeilte sich, durch das efeuumrankte Tor zu treten. Sirona huschte an ihrer Seite hinein, Cel und Aiolos kamen nach ihr.
Über Cels Stirn liefen Schweißtropfen. »Ich glaube es ist soweit.« Er keuchte und sein Atem ging schneller. Auch das noch! Die Verwandlung in einen Greifen setzte ein. Er streifte seine Kleidung ab, die Lysandra an sich nahm. Sein Leib veränderte sich. Federn und Fell sprossen, bis der Greif vor ihnen stand.
»Na wunderbar, damit fallen wir hier mit Sicherheit weniger auf«, sagte Aiolos.
Lysandra verspürte Verärgerung.
»Er kann sich das nicht aussuchen«, sagte Sirona. »Eben deshalb sind wir ja hier oder hast du das bereits wieder vergessen?«
»War nicht so gemeint. Es kommt nur äußerst ungelegen.«
Lysandra ließ ihren Blick schweifen. Alles war wie verblichen: der Himmel, die Wiesen, die Felder und Haine. Ein Wind, der von nirgendwo her zu stammen schien und kein Ziel kannte, bewegte die Zweige der Bäume und Sträucher, die Gräser und Halme und das Gewand der Frau mit dem blutenden Schnitt am Handgelenk. Ihr langes dunkles Haar hing ihr wild ins gräuliche, durchscheinende Gesicht.
»Hier verweilen die Schatten der Selbstmörder, der fälschlich zum Tode Verurteilten und der zu jung Verstorbenen«, sagte Aiolos.
Ein kleines Mädchen in einem Totengewand hockte inmitten einer Blumenwiese. Ihr Gesicht war leichenblass und ihre Augen dunkel umrandet. Sie stopfte sich eine Handvoll hellvioletter Blüten in den Mund und kaute darauf herum, als wäre es das köstlichste Festmahl.
»Sie isst Blumen?«, fragte Lysandra.
»Gewiss tut sie das«, vernahm sie eine tiefe Männerstimme und erblickte den Sprecher, einen auffallend großen, behaarten Mann … in einem Frauengewand aus fließendem Stoff mit einem großzügigen Ausschnitt, der seine Brustbehaarung gut zur Geltung brachte. »Oder wollt Ihr lieber, dass sie Euer Blut trinken? Die Asphodeln sind den Schatten der Toten als Nahrung gegeben.«
Neben dem Mann saß eine auffallend schöne schwarzhaarige Frau auf einem schwarzen, geflügelten Ross, aus dessen Nüstern Rauch quoll.
»Seid gegrüßt. Wer seid Ihr? Wie ein Toter seht Ihr nicht aus«, sagte Lysandra.
»Natürlich bin ich keine Tote. Ich bin Phantasia, die Nymphe der verbotenen Träume«, sagte der Mann und kratzte sich an seinem Dreitagebart. Er deutete auf die dunkelhaarige Frau an seiner Seite. »Und dies hier sind die Nymphe mit dem geheimen Namen und ihr Bruder Areion.«
Die schöne dunkelhaarige Frau, die neben Phantasia auf einem Pferd saß, sah schon eher aus, wie man sich eine Nymphe vorstellte.
»Und wo ist ihr Bruder?«, fragte Cel mit krächzender Stimme.
»Er ist das Pferd!«
Lysandra starrte ihn ungläubig an. »Das Pferd?«
Der fremde Mann ließ seine beringten Finger über seinen behaarten Brustansatz gleiten. »So wahr ich die Nymphe der verbotenen Träume bin.«
»Welcher Träume?«, fragte Lysandra.
Der Mann zwinkerte ihr zu. »Jene, die jeder gerne hat, aber keiner zugibt, sie zu haben. Verzeiht mir, meine Freunde, wenn ich mich jetzt schon verabschiede, doch vielerlei Aufgaben rufen mich. Ich muss verbotene Träume aussenden in alle
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