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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Morgan
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Gedächtnis und ihre Identität, sobald sie von der Lethe, dem Fluss des Vergessens, getrunken haben. Danach sind sie Schatten, leere Hüllen, die einer noch unvollkommeneren Form ihres leeren Lebens nachhängen.«
    Sie erkannten die Nymphe mit dem geheimen Namen, deren polanges schwarzes Haar im jenseitigen Wind wehte. Ihr Bruder, das schwarze, geflügelte Pferd, stand neben ihr. Sie streichelte mit ihren zarten, onyxringbesetzten Fingern sachte seine bebenden Nüstern.
    »Nicht alle bleiben hier«, sprach die Nymphe weiter. »Jene, die Heldenhaftes vollbracht haben, werden ins Elysion aufgenommen. Andere, die Kreaturen des Bösen, finden ewige Qualen in den Tiefen des Tartaros. Die meisten jedoch, und zwar jene, die sich weder im Guten noch im Schlechten besonders hervorgetan haben, bleiben hier, zu unendlicher Monotonie verdammt, bis ihre Seelen sich erneuern, um den Kreis wieder zu vollenden.« Ein Seufzer entrang sich ihren sanftgeschwungenen Lippen. »Wer, ob Gott oder Daimon, die Sterblichen um ihre Seelen beneidet, war weder jemals hier gewesen noch hat er die Schreie der Gepeinigten vernommen aus den dunkelsten Tiefen des Hades.« Kurz schlug sie die Augen nieder, nur um sie wieder anzusehen.
    Sie war so überirdisch schön, dass Lysandra sie sich nicht als die Schwester eines Pferdes vorstellen konnte. Aber vermutlich war das Pferd ebenso wenig ihr Bruder, wie dieser bärtige Kerl im Weibergewand eine Nymphe.
    »Es gibt nur einen Weg, um die Toten zum Sprechen zu bringen: indem man ihnen Blut zu trinken gibt«, sagte die Nymphe.
    Lysandra erschauerte. »Blut?«
    »Das Blut eines Opfertieres oder das Eure.«
    Lysandra schluckte. »Warum müssen die Toten alles vergessen?«, fragte Lysandra. »Damit sie ihr jetziges Dasein in der Monotonie überstehen können?«
    Die Nymphe lächelte traurig. »Das vielleicht auch, doch vorwiegend, um irgendwann neu erschaffen zu werden in Leibern, die ihnen unbekannt sind, und mit Namen, die noch keiner weiß, womöglich nicht einmal der Tod selbst.«
    »Der Tod? Ihr meint Hades?«
    »Thanatos, des Schlafes Bruder, den sanften Tod, meine ich.
    Cel keuchte. An den Krämpfen, die seine Greifengestalt durchzogen, bemerkte Lysandra, dass die Rückverwandlung begann.
    »Ist es dazu nicht noch zu früh?«, fragte Aiolos.
    Lysandra sah ihn besorgt an. »Das dachte ich auch. Doch offenbar scheint hier alles anders zu sein.« Sie blickte zum Himmel empor. Tatsächlich war das diffuse Licht dunkler geworden, doch eine richtige Nacht gab es hier nicht. Alles schien dem irdischen Leben nachempfunden zu sein.
    Sie blickte zu der Nymphe. Fasziniert beobachtete diese Cel, dessen Leib sich zu verformen begann. »Interessant.«
    Die Federn und das Fell zogen sich in seine Haut zurück. Sein Schnabel schrumpfte ebenso wie sein Leib, während die Muskeln und Sehnen sich verformten. Endlich war er wieder ein Mann. Sichtlich erschöpft erhob er sich. Da sein Leib immer noch ein wenig bebte, kam Aiolos zu ihm, um ihn abzustützen. Lysandra reichte ihm seine Kleidung, die er mit zitternden Händen anzog.
    »Würdet Ihr uns bitte freundlicherweise sagen, wo wir das Haus des Hades finden?«, fragte Cel.
    Die Nymphe mit dem geheimen Namen wandte ihm ihren Blick zu. »Wie kommt Ihr ins hellenische Totenreich? Ihr seid doch ein Keltoi.« Lysandra fand es seltsam, dass die Nymphe dies seltsamer fand als die Tatsache, dass er ein Greif gewesen war und als Lebender das Totenreich betreten hatte.
    »Die Pythia von Delphoí empfahl es mir, um den Zauber zu lösen, der mein Leben schwer und das meiner Schwester unerträglich macht − bis zu ihrem viel zu früh zu erwartenden Tod.«
    »Ich verstehe«, sagte sie.
    Verstand sie das wirklich? Konnten das Ausmaß dessen nicht einzig Cel und Sirona vollends begreifen, da sie es Tag für Tag erlitten?
    Die Nymphe mit dem geheimen Namen blickte sich um, als würde sie verfolgt. Sie tauschte einen Blick mit dem schwarze Ross Areion und sprach leise: »Gegen Ende der Asphodelischen Felder kommt das Tal der Trauer, wo jene verweilen, die das Liebesleid dahingerafft hat. Danach kommt die Ebene des Gerichts, welche Ihr meiden müsst. Wendet Euch nach rechts und sucht den Pfad, der zum Hades führt. Solltet Ihr vom Weg abkommen oder Euch zu weit links halten, kann es sein, dass Ihr im Tartaros landet. Nehmt Euch in Acht vor den Totenrichtern sowie Hades und all seinen Getreuen.«
    »Habt Dank, verehrte Dame«, sagte Cel. »Eure Güte und Euer Mitgefühl sprechen für

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