Der Kuss des Jägers
gemeinsame Sache gemacht
und ihm die blutige Tat überlassen hatte. Der geheimnisvolle Raphael war für
sie das Phantom geworden, auf das sich offenbar die Ermittlungen
konzentrierten. Viele Leute – Sophie, Madame Caradec, die Menschen in der
Notaufnahme – hatten ihn gesehen, aber Sophie wusste, dass er darüber hinaus
nicht greifbar war. Ein Mansardenzimmer in der Rue Thouin, das er womöglich
nicht einmal selbst gemietet hatte und keine persönlichen Gegenstände enthielt.
Kein Telefonanschluss, kein Job, keine Konten. Ohne Nachname war selbst das
schwierig herauszufinden. Sie verstand nur zu gut, weshalb Gournay ihr mit
unverschämten Fragen noch einmal hart zugesetzt hatte, um ihr mehr Details über
ihren Liebhaber zu entlocken. Hoffentlich hatte selbst er eingesehen, dass sie
wirklich keine Antworten für ihn hatte. Sei nicht naiv. Er war zu lange im Geschäft, um nicht zu merken, dass sie ihm etwas
verheimlichte.
»Sophie, Kind!«, schallte es ihr von oben entgegen.
Verwirrt blickte sie auf. »Woher …«
»Dein Vater hat zufällig vom Fenster aus das Polizeiauto gesehen. Du
armes Wesen! Du siehst vollkommen fertig aus. Komm!« Um sie in die Wohnung zu
lenken, legte ihre Mutter den Arm um sie, und ausnahmsweise war ihr diese
Stütze willkommen. »Wie konnten sie dich so lange festhalten? Wir müssen uns
beim deutschen Konsulat beschweren – oder ist das die Botschaft? So geht das
doch nicht.«
»Ich war drauf und dran, sämtliche Polizeireviere abzuklappern, um
dich zu finden«, bekräftigte ihr Vater, der in der Tür des Salons stand.
»Wahrscheinlich hätte er sich auch noch Ärger eingehandelt.« Ihre
Mutter verdrehte die Augen. »Deine Madame Guimard war auch ganz besorgt und hat
schließlich bei der Polizei angerufen. Es hätte ja auch sein können, dass dir
auf dem Rückweg etwas passiert ist.«
Muss sie immer so viel reden? Wie
Karusselle drehten sich die Sätze in ihrem Kopf, bis ihr schwindlig war.
Dankbar sank sie auf das Sofa, zu dem ihre Mutter sie dirigierte. Madame
Guimard tauchte mit Tee in ihrem Blickfeld auf und stellte die dampfende Tasse
vor ihr auf dem Couchtisch ab.
»Merci. Sie wissen immer, was gut für mich ist. Haben Sie …«
»Ich habe das Vorstellungsgespräch für dich abgesagt, aber …«
Sophie nickte. Dass sie so überraschend von der Polizei abgeholt
worden war, hinterließ sicher keinen guten Eindruck.
»Warum hat das so lange gedauert?«, wollte ihr Vater wissen.
»Es war grauenvoll. Erst hat mich der Commissaire eine Ewigkeit
verhört, und dann musste ich bei einem anderen alles noch mal zu Protokoll
geben, damit sie meine Aussage schriftlich haben.« Wenn das
keine Zermürbungstaktik war, um mich endgültig in Widersprüche zu treiben,
fress ich einen Besen.
»Das ist alles noch viel zu anstrengend für dich«, befand ihre
Mutter. »Am besten kommst du mit uns nach Hause, dann hast du endlich deine
Ruhe.«
»So einfach ist das jetzt nicht mehr.« Sie war froh, endlich ein
Argument zu haben, das ihre Eltern nicht anfechten konnten. »Ich fürchte, ich
darf die Stadt nicht verlassen. Je ne peux pas quitter Paris.«
»Aber du bist doch das Opfer!«, empörte sich Madame Guimard.
»Für die Ermittler ist das nicht so klar. Sie glauben, dass ich mit
zwei Mördern unter einer Decke stecke.«
»Mon Dieu! Wir sollten diese Madame des Anges anrufen.«
»Du bist deutsche Staatsbürgerin«, protestierte ihr Vater. »Können
die dir einfach so die Ausreise verweigern? Ich rufe auf der Stelle die
Botschaft an und frage, ob das rechtens ist.«
»Papa, das ist rechtens. Die haben mir das
erklärt.«
»Die können dir viel erzählen«, murrte er, ließ aber doch vom
Telefon ab. »Ich werde mit Sigmar darüber sprechen.«
Sie nickte schwach. Onkel Sigmar war Anwalt. Mit französischem
Strafrecht und internationalen Rechtsabkommen kannte er sich zwar sicher nicht
aus, aber vermutlich wusste er, wo man entsprechende Informationen herbekam.
Tee, sie brauchte jetzt dringend Tee. Großzügig löffelte sie Zucker hinein. Das
Sandwich, das Gonod ihr nach dem Verhör durch seinen Chef besorgt hatte, lag
schon wieder Stunden zurück. Mist. Jetzt schmeckte es
widerlich süß. Doch der Hunger ließ sie die halbe Tasse in einem Zug
austrinken. »Könnte ich etwas zu essen haben?«, fragte sie Madame Guimard, die
sofort aus dem Zimmer eilte.
»Ja, aber … dann kannst du morgen früh ja gar nicht mit uns
zurückfahren«, stellte ihre Mutter das Offensichtliche
Weitere Kostenlose Bücher