Der Kuss des Jägers
fest.
Entschuldige, Rafe, dass ich dich verdächtigt
habe. Ich hab es wohl eher von ihr. »Mama, es war doch gar nicht die
Rede davon, dass ich mit euch fahre.«
»Für dich vielleicht nicht.«
»Ihr müsst morgen schon zurück?«
Madame Guimard brachte eine Packung Madeleines aus der Küche.
Dankbar machte sich Sophie über die kleinen, schiffchenförmigen Kuchen her.
»Dein Vater bekommt sonst Ärger in der Firma. Sie haben ihm doch nur
deshalb drei Tage freigegeben, weil er gesagt hat, dass es ein Notfall ist. Du
weißt ja, wie es ist. Eigentlich kann er nicht so einfach auf die Schnelle
verschwinden. Jetzt sind sie schon sauer, weil wir erst morgen fahren. Du
hättest ihnen nicht sagen sollen, dass es ihr schon wieder gut geht, Günther.«
»Ich kann meinen Chef nicht anlügen«, entgegnete ihr Vater gereizt,
woraufhin ihre Mutter eine düstere Miene zog.
Bald werde ich wieder meine Ruhe haben, freute sich Sophie und biss in ein Madeleine. Leise meldete sich ihr schlechtes
Gewissen. Durfte sie ihre Eltern so gern wieder loswerden wollen, wenn sie sich
solche Sorgen machten? Doch dann fiel ihr Blick auf den Verband an der Hand
ihres Vaters – und sofort sah sie das Foto des Toten wieder vor sich.
Genervt klappte sie das schwarze Buch mit dem in silbernen
Buchstaben geprägten Titel zu. Unter »Praxis der schwarzen Magie« hatte sie
sich etwas anderes vorgestellt als diese seitenlangen Schilderungen mystischer
Visionen, die dem Autor angeblich beim Meditieren über seltsamen Namenstafeln
eingegeben worden waren. Was sollte ihr das Geschwafel über irgendwelche
ägyptischen Königinnen, an den Füßen aufgehängte Männer und grausige Ungeheuer
in labyrinthischen Tempeln sagen? Entweder hatte dieser Magier eine blühende
Phantasie, oder er nahm Drogen, wie es die Kirche Satans laut einem anderen
Buch nicht nur billigte, sondern sogar empfahl.
Falls das alles auf den hinteren Seiten noch auf etwas Konkretes
hinauslief, würde sie es später lesen. Müde rieb sie sich die Augen. Sie hatte
die ganze Nacht geschlafen wie ein Stein und war frisch und ausgeruht gewesen,
als ihre Eltern kurz vorbeigekommen waren, um sich zu verabschieden. Seit Rafes
Tod hatte sie ihnen nicht mehr so aufrichtig alles Gute gewünscht wie für diese
Fahrt. Die Angst vor Kafziel nagte immer spürbarer an ihren Nerven, aber dass
sie jetzt schon wieder schwächelte, musste an diesem zum Gähnen langweiligen
Buch liegen.
Nachdenklich sah sie zum Fenster, an dessen Scheibe nichts mehr an
die blutige Botschaft erinnerte. Warum war er so versessen auf dieses Opfer?
Weil er ein Dämon war und es in seiner Natur lag? Natürlich auch das, doch die
Antwort reichte ihr nicht. Er hatte behauptet, sie zu einem Engel machen zu
wollen, weil sie Rafe dadurch erlösen und er auf elegante Art einen
Konkurrenten um die Macht in Paris beseitigen konnte. Irgendetwas musste an
dieser Erklärung faul sein, sonst hätte Rafe bei ihrer Rettung nicht gerufen,
dass Kafziel sie nur benutze. Sicher war er wieder zu einem guten Engel
geworden, weil er sie beschützt, und nicht, weil sie Opferbereitschaft bewiesen
hatte. So ergab es auch viel mehr Sinn.
Doch wofür wollte der Dämon ihren Opfertod dann? Wenn es ihm
wirklich darum gegangen wäre, Rafe loszuwerden, hätte er sein Ziel nun bereits
erreicht und sie nicht mehr verfolgen müssen. Was hatte Alex gesagt? Jean habe
einen Zusammenhang zwischen ihrem Fall, dem Mädchen im Krankenhaus und dem
Toten in der Rue des Barres gesehen? Alle drei Vorgänge hatten angeblich mit
dem Buch Henoch und den Wächtern zu tun, die darin vorkamen. Nachdem Gournay
ihr eröffnet hatte, dass …
Das Handy, das sie gestern am Ladekabel völlig vergessen hatte,
meldete sich mit einem Piepsen. Hoffentlich Rafe, dachte sie beim Öffnen der SMS .
»Sophie, wir können uns nicht mehr offen treffen. Du wirst
beschattet. Komm bitte in Madame Guimards Laden. Rafe«
Beschattet? Oh, wie
dumm von mir! Natürlich heftete Gournay seine Späher an ihre Fersen. Sie
sollte ihn zu Rafe führen. Konnte die B. C. auch ihr Handy abhören oder ihre
Nachrichten lesen? Von solchen Dingen hatte sie keine Ahnung. Aber Rafe würde
sicher wissen, wie er noch gefahrlos mit ihr in Kontakt treten konnte.
Draußen gleißte die Sonne an einem blauen, wolkenlosen Himmel. Das
schwüle Wetter war trockener Hitze gewichen, die ein leichter Wind milderte.
Auf der sonnigen Straßenseite roch es nach Reifengummi und Asphalt, im Schatten
nach feuchtem Gestein.
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