Der Kuss des Jägers
Bunt gekleidete Touristen und dezentere Einheimische
schienen gleichermaßen unterwegs zu einem Mittagessen zu sein. Mühsam
unterdrückte Sophie den Drang, sich nach etwaigen Verfolgern umzusehen. Geübten
Überwachern fiel solches Benehmen bestimmt auf, und dann hätten sie gewusst,
dass sie gewarnt war. Außerdem würden sie dadurch Verdacht schöpfen, dass sie
tatsächlich etwas zu verbergen hatte. So leicht wollte sie es ihnen nicht
machen. Stur blickte sie geradeaus und versuchte, im völlig normalen Tempo
eines Menschen zu gehen, der ein Ziel hatte, aber nicht in Eile war. Mehrmals
ertappte sie sich dabei, schneller zu werden, und brach in Schweiß aus. Wie
sehr sich ein kurzer Weg hinziehen konnte.
Endlich erreichte sie den Laden und kramte ihren Schlüsselbund aus
der Tasche. Durch die Scheiben sah es innen dunkel aus, aber sie wusste, selbst
wenn sie das Licht aus ließ, würde jemand, der aus der Nähe hineinspähte, jede
Person erkennen, die im Verkaufsraum stand. Und wenn ihr Verfolger einfach
hereinspazierte? Rasch schloss sie die Tür von innen wieder ab und ließ den
Schlüssel absichtlich stecken.
Der Boden war noch mit Zeitungen und Plastikfolie ausgelegt, doch
die zahllosen weißen Farbspritzer waren getrocknet und bröckelten unter ihren
Schuhsohlen. Pascal, der Malerlehrling, hatte die verbliebenen Wände mittlerweile
gestrichen. Ein Rest vom Geruch frischer Farbe hing noch in der abgestandenen,
muffigen Luft. Im Vergleich zu draußen war es düster, und es wurde umso
dunkler, je weiter sie sich vom Schaufenster entfernte.
»Rafe?« Sie durchquerte den – von der Theke abgesehen – leeren Raum
und näherte sich dem Durchgang zum Hinterzimmer. Kein Laut drang von der Straße
in die Stille herein. Der hintere Raum hatte kein Fenster. Im Zwielicht
jenseits der offenen Tür stapelten sich Kartons vor leeren Regalen. »Rafe?«
Wo war noch der Lichtschalter? Im Eintreten richtete sie den Blick
auf die ungefähre Stelle an der Wand. Den Schalter zu finden und die Finger
danach auszustrecken, war eins. Das aufflackernde Licht der alten Neonröhre
blendete sie. Ihre Augen ahnten den Umriss des Mannes vor ihr mehr, als dass
sie ihn sahen. Entsetzt blinzelte sie dagegen an und zuckte zusammen, als die
Tür hinter ihr zufiel.
»Du bist wirklich naiv«, stellte Kafziel fest.
Das Neonlicht vertiefte die Bartschatten auf seinen Wangen und gab
seiner Haut eine fahle Farbe. Sophie starrte in die Augen, die unter den
dichten Brauen wie aus tiefen Höhlen hervorglommen.
»Du hättest wirklich darauf kommen können, dass, wenn er dir Nachrichten schicken kann, mir das ebenso möglich
ist.«
Hätte ich das? Ihre Gedanken jagten der
sinnlosen Frage nach, während die Angst ihren Körper lähmte. Sie versuchte,
sich darauf zu konzentrieren, wie sie aus dieser Falle entkommen konnte, doch
eine Bewegung des Dämons lenkte sie ab. Er spielte mit etwas in seiner Hand. Sie
sah es metallisch darin aufblitzen. Sofort wurde ihre Kehle eng. Eine Rasierklinge.
»Für dich?« Nachsichtig lächelte er. »Nein. Auf dich wartet das
Messer, das dein Blut bereits gekostet hat.«
Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich zurück, wie von
einem falschen Magnetpol abgestoßen.
»Du hast meine Botschaft bekommen. Ich finde, du hattest lang genug
Zeit, dich mit deinem Schicksal abzufinden. Wofür willst du immer noch
weiterleben? Es hat sich nichts geändert. Dein Verlobter ist immer noch tot.
Sieh den Tatsachen ins Auge! Solange du lebst, werdet ihr niemals vereint sein.
Ich kann das ändern.«
Sie wich erneut zurück, streifte mit der Schulter die Tür. Ich will aber nicht sterben. Ich will leben.
»Oh, das wollen andere auch.« Wie beiläufig hob er die Hand und
öffnete die Finger etwas mehr, sodass sie das Spielzeugauto darin erkennen
konnte. Silbermetallic, Fließheck, Fünftürer … Sie wollte schlucken, doch ihr
Mund war trocken. Konnte er das? Konnte er ihre Eltern einfach so töten?
»Das muss ich nicht«, meinte er und drehte das Auto zwischen den
Fingern. »Eine kleine Ablenkung … Eine Unaufmerksamkeit des Fahrers bei 160 und schon …«
Er warf es in die Luft. Sophie stieß einen Schrei aus und sprang
vor. Ihre Arme flogen von selbst empor, dem blitzenden Spielzeug entgegen.
Kantig und kalt fiel es in ihre ausgestreckten Hände. In ihrer Panik wäre es
ihr fast wieder entglitten. Atemlos krallte sie die Finger darum.
Kafziel grinste höhnisch. »Ruf sie heute Abend an! Frag sie, ob sie
eine gute
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