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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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Fahrt hatten.«
    Sophie klopfte das Herz bis zum Hals. Er wird sie
umbringen. Wenn ich nicht tue, was er will, wird er sie einfach gegen den
nächsten Baum fahren lassen.
    »Endlich verstehen wir uns wieder«, lobte er. »Ich lasse alles für
ein neues Ritual vorbereiten. Du musst gar nichts tun, als mit mir zu kommen,
wenn ich dich abhole.«
    Er blufft. Er muss bluffen.
Es kann nicht sein, dass er mit einem Fingerschnippen über Leben und Tod
entscheiden kann.
    »Ruf sie an.«
    Sie umklammerte das kleine Auto fester. »Ich glaube dir nicht. Du
bist nicht allmächtig. Ich werde nirgendwo mit dir hingehen!«
    »Oh, zur Not können wir es auch gleich hier erledigen.« Die Klinge
tauchte so unvermittelt in seiner Hand auf, dass sie den Lidschlag verstreichen
spürte, bis ihr Verstand begriff, was die Augen ihm mitteilten.

    Der Rauch einer Zigarette wehte ihm in die Nase und löste
eine solche Gier aus, dass Jean dem Kerl den Glimmstängel am liebsten aus der
Hand gerissen hätte. Doch der Anblick des tätowierten, muskelstrotzenden
Oberkörpers des Rauchers hielt ihn davon ab, dem Drang nachzugeben. Missmutig
stapfte er hinter David her auf den Gefängnishof. Verfluchte
Sucht. Driss hatte erklärt, dass er ihm problemlos auch ohne Geld
Zigaretten beschaffen könne, wenn er etwas zum Tauschen hätte, aber Jean wusste
beim besten Willen nicht, mit was er hätte handeln sollen. Vielleicht musste
man lange genug einsitzen, um auf die richtigen Ideen zu verfallen. Davids
höhnischen Vorschlag, es mal im Duschraum zu versuchen, hatte er um des
Friedens in ihrer Zelle willen ignoriert. Dann muss es eben
ohne Kippen gehen. Ist ohnehin gesünder.
    Als David vor ihm stoppte, blieb auch Jean stehen und sah sich um.
Den mit etwas Rasen begrünten Hof umgaben ringsum Zellenblöcke und Betonmauern,
doch er war weitläufig genug, dass die Gebäude ihn nur am frühen Morgen und
späten Abend in Schatten tauchen konnten. Wie seltsame, fransige Girlanden
rankten sich zusammengeknotete Stricke aus zerrissenen Laken und anderen
Stoffstreifen an den vergitterten Fenstern entlang und verbanden die Zellen
untereinander. Ganz sicher kein Werk moderner Kunst ,
dachte Jean, obwohl es ein wenig an eine Installation erinnerte, die er vor
Jahren im Centre Pompidou gesehen hatte.
    Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Blicke auf ihn gerichtet waren.
Die Stimmen in seiner Nähe hatten einen aggressiven Unterton angenommen. Die
Schwarzen, bei denen David stehen geblieben war, starrten ihn bedrohlich an.
    »Verpiss dich, Weißbrot!«, fuhr David ihn an. »Hier ist kein Platz
für Typen wie dich.«
    Jean verzog ironisch die Lippen. In ihrer Zelle riss der Junge das
Maul nicht mehr ganz so weit auf, aber hier – mit seinen Kumpanen im Rücken –
fühlte er sich wohl stark. Zahllose Nächte auf der Straße hatten Jean gelehrt,
Ärger aus dem Weg zu gehen. Mit einem Rudel Krimineller, die glaubten, ihr
Revier verteidigen zu müssen, würde er sich gewiss nicht anlegen. Er nickte
David zu und schlenderte weiter. Wenn er den anderen Häftlingen nicht in die
Augen sah, würden ihn die meisten gar nicht wahrnehmen.
    So wie ich den Tatsachen nicht ins Gesicht sehe …
Als ob ich dadurch etwas ändern könnte. Seit sich das Gefängnistor
hinter ihm geschlossen hatte, war er davon ausgegangen, dass es nur für kurze
Zeit sein würde. Aber weshalb? Je länger er darüber nachdachte, was Geneviève
gesagt hatte, desto klarer zeichnete sich ab, dass er keine Chance hatte, aus
der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Diese Gnade wurde nur Verdächtigen
zuteil, die einen geregelten Lebenswandel vorzuweisen hatten: feste Arbeit,
Familie, keine früheren Auffälligkeiten. Nichts davon traf auf ihn zu. Gournay
konnte dem Haftrichter eine dicke Akte mit ungeklärten Vorfällen der
Vergangenheit vorlegen. Und dann noch Mord! Bestenfalls Körperverletzung mit
Todesfolge, wenn die Obduktion einen Herzinfarkt ergab, wie Geneviève
prophezeite. Nein, sie würden ihn monatelang festhalten, bis die Ermittlungen
abgeschlossen waren und ein Prozess eröffnet werden konnte.
    Und danach? Geneviève war zuversichtlich, ein mildes Urteil zu
erreichen, doch sie durfte den freien Willen des Richters nicht beugen, falls
er stur blieb. Ein Freispruch war jedenfalls ausgeschlossen – schon weil er
widerrechtlich in Caradecs Wohnung eingedrungen war.
    Caradec. Erneut verzog Jean den Mund. Dass
der verdammte Paktierer zur Hölle gefahren war, betrachtete er als Segen für
die Menschheit.

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