Der Kuss des Jägers
Stefan erst zwei
Mal gesehen hatte und nicht darüber informiert war, was seine Familie so trieb.
»Na ja, wenn ihm das so wichtig ist. Die beiden stehen sich wohl sehr nah.«
»Eigentlich nicht. Jedenfalls hat er vor zwei Wochen noch gemosert,
dass er keinen Bock hat, seinen Urlaub auf ’ner Baustelle zu verbringen, und
jetzt ist es auf ein Mal so eine wichtige Kiste. Männer.«
Sophie konnte förmlich sehen, wie Lara die Augen verdrehte.
»Hauptsache, ihr vertragt euch wieder.«
»Das schon. Aber ich bin deine Freundin, und du brauchst meine
Hilfe. Also hab ich ihm dann gesagt, dass ich eben allein nach Paris fahre.«
Wow. Sie konnte gerade noch unterdrücken,
es auszusprechen. Lara, die seit Wochen von nichts anderem als Stefan
gesprochen hatte, wollte ihretwegen für einige Tage auf ihn verzichten. »Das …
Ich weiß, wie schwer dir das fällt, wenn du frisch verliebt bist.«
»Ja, toll, aber Pustekuchen! Ich hatte schon das Okay von der
Chefin, und jetzt ist Frau Michels krank geworden. Sommergrippe. Jetzt bin ich
natürlich unverzichtbar. Was für’n Mist.«
Wieder musste Sophie an Kafziel denken. Vielleicht sollte sie es als
glückliche Fügung betrachten, dass Laras Pläne durchkreuzt worden waren.
»Aber die kann ja nicht ewig krank sein«, meinte jene entschieden.
»Und dann stehe ich sofort bei dir auf der Matte.«
»Pussy«, hörte er David schnauben, als er eine
Zeitungsseite auf dem Boden der Toilette ausbreitete. Hätte das Klo einen
Deckel gehabt, wäre die Lösung einfach gewesen, aber so … Er sah nicht ein,
Driss das Putzen der klebrigen Fliesen abzunehmen, nur weil er telefonieren
wollte, ohne vom Gang aus gesehen zu werden.
»Wieso Pussy?«, regte sich der Maghrebiner auf. »Das ist voll eklig
da drin.«
»Dann mach doch sauber«, blaffte David zurück.
»Ich mach das immer montags, heut ist Freitag. Kannst’s ja selber
machen.«
»Ich war diese Woche schon dran, du
Arsch.«
Jean ließ sich auf der Zeitung nieder und versuchte, das ewige
Gezänk der beiden auszublenden. Auch aus anderen Zellen drangen streitende
Stimmen zu ihnen. Zwei Kerle unterhielten sich lautstark über den Gang hinweg,
und irgendwo plärrte ein Radio gegen einen Fernseher an. Wer genug Geld hatte,
konnte sich von den Medien gegen die Langeweile berieseln lassen, aber Jean
stand ohnehin nicht der Sinn danach. Neugierig zog er das Handy, das Driss ihm
besorgt hatte, unter seinem Hemd hervor. Hoffentlich funktionierte es auch.
Einen vollen Monatslohn als Küchenhilfe hatte er für die »kleine
Gefälligkeit« verpfänden müssen. Geld, das nicht ausgezahlt wurde, aber
virtuell für Einkäufe in der Kantine zur Verfügung stand, wo es alles gab, was
ein Häftling legal erwerben durfte. Für seinen ersten Lohn würde er nun also
nur kaufen, was Driss haben wollte. Vermutlich Zigaretten. Was sonst?
Jean zögerte, das Handy einzuschalten. Da er keine Möglichkeit
hatte, es aufzuladen, musste er mit dem Akku gut haushalten, und noch war er
sich nicht sicher, ob er Alex wirklich gefahrlos anrufen konnte. Sein Freund
würde ausflippen, wenn er gegen dessen heilige Sicherheitsregeln verstieß.
Wieder ging er in Gedanken durch, ob er etwas übersehen hatte. Die Polizei
wusste nichts von diesem Handy, konnte also auch keine Verbindungsdaten mit ihm
in Zusammenhang bringen. Wurde Alex überwacht? Womöglich seine Wohnung oder der
Laden abgehört? Unsinn. Es gibt keine Spur, die sie von
meiner Wohnung oder meinen Sachen zu Alex geführt haben könnte. Solange
ihnen niemand verraten hatte, dass er im L’Occultisme aushalf – und wer hätte so dumm sein sollen, das zu tun? –, musste Alex vor
Nachforschungen sicher sein.
Das Display jagte ihm einen Schrecken ein, als es auf seinen
Tastendruck hin ausgerechnet mit einem lauten Jingle zum Leben erwachte. Zum
Glück war gerade kein Wärter vorbeigekommen. Nerven
bewahren! , ermahnte er sich und atmete tief durch. Wahrscheinlich war
ihm das Geräusch vor Heimlichtuerei viel lauter vorgekommen, als es gewesen
war. Dennoch durchforstete er als Erstes die Einstellungen, um sämtliche
Tasten- und Klingeltöne auszuschalten. Dann hielt er erneut inne, konzentrierte
sich. Er hatte Alex’ Nummer nie bewusst auswendig gelernt. Unsicher tippte er
eine Ziffernfolge, die ihm plausibel vorkam. Die Stille kam ihm endlos vor, bis
endlich ein Tuten bewies, dass irgendjemandes Handy klingelte.
»Hallo?«
War das die richtige Stimme? »Alex? Hier ist Jean.«
»Jean! Bist du
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