Der Kuss des Jägers
Fäuste
schnellten vor, links, rechts, die erste prallte auf einen abwehrenden Arm, die
andere traf, schlug mit voller Wucht in Haut und Knorpel. Blut schoss aus
Davids Nase. Ein heftiger Atemstoß versprühte es wie roten Nebel.
Sophie öffnete einen der beiden Briefe, die für sie in der
Post waren, doch ihre Gedanken schweiften schon den ganzen Morgen immer wieder
zu Lara und deren unromantischem Stefan – und von dort zu Rafe. War es nicht
seltsam, wie sich Stefan gegen diese Reise sträubte?
»Willst du denn gar nicht wissen, was drin steht?«, wunderte sich
Madame Guimard, die am anderen Ende des Küchentischs einen Salatkopf
zerpflückte. Nach dem Frühstück hatte sie einige Stunden in ihrem Arbeitszimmer
verbracht, aus dem das an- und abschwellende Surren einer Nähmaschine gedrungen
war, und die gepackten dunklen Koffer im Schlafzimmer zierte eine erste feine
Staubschicht. Offenbar wollte sie immer noch verreisen, war aber nicht sicher,
wann sie ihren Schützling allein lassen konnte.
Ich muss ihr zureden, dass sie ruhig ihre Familie
besuchen kann, beschloss Sophie . Mir geht es doch
gut. Sie war nach dem Frühstück beim Arzt gewesen und hatte den Schnitt
untersuchen lassen. Es war kaum noch etwas zu sehen. Der Doktor hatte nur
verwundert den Kopf schütteln und sich noch einmal vergewissern können, dass
die Verletzung erst eine Woche alt war.
Pflichtschuldig überflog sie die Zeilen des nüchternen
Geschäftsbriefs. »Wieder eine Absage.« Achselzuckend steckte sie ihn in den
Umschlag zurück. Autohandel interessierte sie ohnehin nicht gerade brennend.
»Was meinen Sie, Madame? Wenn ein junger Mann erst seit wenigen Monaten mit
einer Frau zusammen und noch nie mit ihr weggefahren ist, müsste er dann nicht
erfreut die Gelegenheit beim Schopf packen, wenn er Urlaub hat und sie ein paar
Tage in Paris vorschlägt?«
Madame Guimard zog eine ebenso verblüffte wie missbilligende Miene.
»Na, das sollte man meinen. Wer hat sich denn so in die Nesseln gesetzt?«
»Laras Freund. Er sagt, er müsse seinem Bruder beim Hausbau helfen.
Aber ich finde, es wären doch nur ein paar Tage, und so ein Haus zu bauen,
dauert ewig.«
»Hm. Wenn er es seinem Bruder versprochen hat …«
»Das weiß ich nicht.«
»Nach einer amour fou hört es sich nicht
gerade an«, gab Madame Guimard zu und trug den Salat in einer Schüssel zur
Spüle, um ihn zu waschen. »Eine junge Frau erwartet natürlich etwas anderes von
ihrem Liebhaber. Das sollte ihm klar sein. Aber nur weil er für die Liebe nicht
seine Pläne über den Haufen wirft, muss er kein schlechter Mann sein.«
Nein, das nicht. Doch wie verliebt konnte
er in Lara sein, wenn er ihr einen solchen Wunsch abschlug? Fehlte da nicht das
rechte Feuer, die Leidenschaft? Und deshalb landete sie bei ihren Überlegungen
immer wieder bei Rafe. Erst gestern hatte er ihr wieder gesagt, dass er sie
liebe und sie glücklich machen wolle, aber sie hatte es nicht gespürt . Die zärtliche Liebe, die er wohl für sie empfand,
kam ihr nach der Intensität, mit der sie zuvor füreinander entbrannt waren, wie
ein Kerzenlicht vor, mit dem sie nach dem Verlöschen eines prasselnden
Lagerfeuers in der Dunkelheit zurückblieb.
»Ah, ich hab also recht.« Madame Guimard schwenkte den Salat ein
letztes Mal ab, bevor sie ihn zum Trocknen in eine Salatschleuder umfüllte.
»Ihr jungen Dinger wollt immer, dass die Kerle die verrücktesten Sachen für
euch tun. Ja, ja, das ist sehr romantisch. Aber was bleibt davon, wenn man
älter wird? Die leidenschaftlichen Männer fliegen zur nächsten Blüte weiter –
das passiert. Die Ruhigen, Beständigen sind es, die heiraten.«
»Hier geht es doch noch nicht ums Heiraten. Nur um die Liebe.«
Mechanisch trennte Sophie den zweiten Briefumschlag auf. Tat sie Rafe unrecht?
Liebte er sie weniger, nur weil er sie nicht mehr so maßlos begehrte?
Vielleicht nicht. Aber sie sehnte sich nach ihm, nach seiner Nähe, seiner
Berührung. Sie hätte am liebsten den ganzen Tag mit ihm verbracht, wenn es nur
möglich gewesen wäre, und fieberte jeder Begegnung in der Vorfreude auf das
entgegen, was sie vermisste, sobald er nicht an ihrer Seite war. Doch diese
Erwartungen sah sie jedes Mal ein wenig enttäuscht. Seine Freude, sie zu sehen,
schien verhalten. Nein, alles wirkte bei ihren
Begegnungen neuerdings gehemmt. Er mochte sie immer noch lieben oder vielleicht
sogar jetzt erst wieder, aber dass er sich so zurückhielt, verlieh ihrer
eigenen Sehnsucht einen
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