Der Kuss des Jägers
gern hatte, wälzte sich wie ein Mühlstein auf sie. Konnte
es sein? Durfte Gott so etwas zulassen? Das Gespräch mit dem Priester in
Saint-Nicolas-du-Chardonnet fiel ihr wieder ein, und auch die anschließende
Diskussion mit Jean. Der Abbé hatte das Böse auf den Teufel geschoben und
behauptet, sie müsse eben an Gottes gute Gründe glauben, wenn er nicht
einschritt. Jean dagegen hatte sich hinter Rafes Erklärung gestellt, dass auch
das Böse letztlich von Gott ausginge. Dieses Zitat stammte aus dem Buch Jesaja.
Sie hatte sich nur den letzten Satz gemerkt: »Ich, der Herr, bin es, der alles
bewirkt.« Vielleicht ist das alles doch Unsinn. Es gibt
keinen Gott, und die Welt ist einfach schlecht.
Das Handy riss sie aus den düsteren Gedanken. Bis sie vom Bett
gesprungen war und es aus ihrer Tasche gewühlt hatte, blieb ihr keine Zeit
mehr, zuerst aufs Display zu schauen, bevor sie hastig die Anruftaste drückte.
»Ja?«, keuchte sie.
»Hi, Soph! Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, na ja, eigentlich nicht, aber ich bin nur so außer Atem, weil
ich erst das Handy finden musste.«
»Und was ist wirklich los?«, hakte Lara nach.
»Alles. Gestern hat mich die Polizei noch mal verhört. Der
Commissaire hat sogar gedroht, mich einzusperren, wenn ich nicht kooperativ
genug bin. Das können die hier, weil …«
»Bitte was?«, fiel Lara ihr ins Wort. »Jetzt verstehe ich gar nichts
mehr. Du bist doch das Opfer in diesem Fall.«
»Irgendwie interessiert das keinen, weil ich nicht tot bin. Alles
dreht sich nur um den Kerl, den Jean und Raphaël angeblich auf dem Gewissen haben.
Jetzt verdächtigen sie die beiden, vorher schon einen anderen Mann umgebracht
zu haben, der auch zu diesem Zirkel gehörte. Und ich könnte ja theoretisch ihre
Komplizin sein und das alles erfunden haben.«
Lara seufzte. »Und du bist sicher, dass deine neuen Freunde nicht
tatsächlich …«
»Hast du sie noch alle?«, fiel Sophie ihr ins Wort. »Auf wessen
Seite stehst du denn?«
»Auf deiner natürlich! Aber die Frage muss doch erlaubt sein. Du
kennst sie doch eigentlich gar nicht!«
Sophie zögerte. Ihre Freundin konnte schließlich nicht wissen, dass
dieser unbekannte Raphaël ein Engel und über jede Lüge erhaben war. Und Jean?
Alex hatte gesagt, Jean würde Satanisten eher umbringen, als zuzulassen, dass
sie einen Menschen opferten. Aber Geneviève hatte gesagt, er sei es nicht
gewesen, und auch sie war ein Engel. »Nein, es gibt keinen Zweifel. Du musst
mir glauben, Lara. Die beiden haben nichts mit diesem anderen Fall zu tun. Und
sie haben diesen Caradec gar nicht totgeschlagen. Der Obduktionsbericht nennt
Herzinfarkt als Todesursache.«
»Äh, und warum glaubt die Polizei dann noch an Mord?«
»Noch ist das Ergebnis angeblich nicht offiziell. Außerdem hat
dieser Commissaire Jean schon länger im Visier, weil … weil er sich nachts
immer dort herumtreibt, wo es brenzlig wird. Ich kann’s nicht genauer erklären.
Aber selbst wenn es kein Mord war, wird er eben für den Rest eingesperrt. Das
ist alles so unfair!«
»Also am ungerechtesten finde ich immer noch, wie sie dich behandeln.«
»Das wird sich vielleicht ändern, wenn sie die anderen
Zirkelmitglieder finden. Obwohl … jetzt beschatten sie mich auch noch, weil sie
hoffen, dass ich sie zu Raphaël führe.«
»Echt? Dir laufen so auffällig unauffällige Typen nach wie im Film?«
»Schön, dass du’s spannend findest.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Lara mit überzeugendem Bedauern
in der Stimme. »Du machst ganz schön was durch. Hast du denn noch Kontakt zu
Raphaël? Der muss doch jetzt untertauchen, aus der Stadt abhauen oder so was.«
»Wir haben noch Kontakt. Aber … klar, es ist schwierig.«
»O Mann, und ich kann nicht mal nach Paris kommen und dir als Botin
oder so was beistehen.«
Sophie konnte sich nicht helfen, aber sie hatte den Eindruck, dass
sich Lara schon in der Nebenrolle eines aufregenden Krimis sah. »Es klappt also
nicht?«
»Irgendwie hat sich gerade alles verschworen. Erst hat Stefan
rumgezickt. Ich weiß nicht, was mit dem los ist. Er hat doch Urlaub. Da könnten
wir prima wegfahren. Aber als ich nicht lockergelassen habe, wurde er richtig
patzig. Ich glaub, das war unser erster Streit.«
»Hä? Aber warum denn? Hat er was gegen Paris?«
»Ich weiß auch nicht. Er ist ständig darauf rumgeritten, dass er
seinem Bruder auf der Baustelle helfen muss. Die bauen ein Haus, weißt du?«
Sie sparte sich, Lara daran zu erinnern, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher