Der Kuss des Jägers
warum das alles? »Was will er
eigentlich erreichen? Warum ist er so hinter mir her?«
»Er giert nach Macht – wie alle Dämonen. Ein freiwilliges Opfer
würde ihm einen deutlich höheren Rang verschaffen, denn es ist nicht leicht,
einen Menschen dazu zu bewegen, sich aus freien Stücken töten zu lassen.«
Ist das so? »Selbstmord scheint mir leider
nicht so selten zu sein.«
»Du darfst den Freitod nicht damit verwechseln, sich freiwillig
umbringen zu lassen. Das eine erfordert die selbst ausgeführte Tat und damit
größere Entschlossenheit. Das andere ist ein Akt der Selbstaufgabe, eben ein
Opfer.«
»Und ich war bereit, mich für dich zu opfern …«
»Das war sehr großmütig von dir.« Er nahm ihr Gesicht sanft in beide
Hände und küsste ihre Stirn. »Deine Liebe ehrt mich – und hat mich trotz allem
gerettet. Ich möchte dich glücklich sehen, aber solange Kafziel dich verfolgt,
wird es wohl ein Wunsch bleiben, um dessen Erfüllung wir kämpfen müssen.«
Sie nickte, während er die Hände auf ihre Schultern legte. »Jean
glaubt, dass es um mehr geht als nur um dich und mich«, fiel ihr wieder ein.
»Er meinte, es gebe Zusammenhänge mit einem besessenen Mädchen und einem Mann,
der zu Caradecs Zirkel gehörte, bevor ihn ein Dämon dazu gebracht hat, sich
selbst …« Ihr fiel kein Wort für die Schlächterei auf dem Foto ein.
Rafes Blick verdüsterte sich. »Kafziel wollte das Opfer auch um des
Rituals willen, das ihm einen kurzen, aber bedeutenden Zuwachs an magischer
Macht verliehen hätte. Dieser Caradec gestand, dass der Dämon mithilfe dieser
Kräfte den Schlüssel für irgendein Gefängnis erlangen will. Leider verbarg
Kafziel die Gedanken seines Dieners vor mir. Ich weiß nicht, wovon er sprach.«
Ein Gefängnis? Aber Jean hatte die Verbindung doch in den Wächtern
gesehen, die … »Könnte er den Verbannungsort der Wächter gemeint haben? Ich
habe im Buch Henoch davon gelesen. Die gefallenen Engel wurden für ihre
Vergehen an einen öden, finsteren Ort geschickt, wo sie bis zum Tag des
Jüngsten Gerichts gefesselt sein sollen.«
»Zu diesem Gefängnis gibt es einen Schlüssel?« Er sah gleichermaßen
überrascht wie beunruhigt aus.
Sophie zuckte die Achseln. Soweit sie sich erinnern konnte, stand
davon nichts in dem Buch, das Jean ihr gegeben hatte, aber es konnte trotzdem
wahr sein.
»Warum weiß ich nichts davon?«
»Bist du denn allwissend?«, fragte sie verunsichert.
Er warf ihr einen undeutbaren Blick zu. »Wohl kaum. Und vielleicht
ist es tatsächlich besser, wenn nicht jeder Engel über dieses spezielle Wissen
verfügt.«
Ausnahmsweise hatte sie das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Wenn jeder Engel um diesen
Schlüssel gewusst hätte, wären schon unzählige nach ihrem Sturz auf dieselbe
unselige Idee gekommen wie Kafziel.
»Der Dämon darf diesen Schlüssel auf keinen Fall in die Hände
bekommen! Du musst standhaft bleiben, Sophie!«
Als ob sie etwas anderes wollte. Aber … »Wenn ich mich weigere, kann
er immer noch ein anderes Opfer finden.«
»Das ist wahr.« Seine Schultern strafften sich.
Bildete sie es sich nur ein, oder konnte sie die schlagenden Flügel
beinahe sehen, die viel zu groß für den kleinen Raum waren?
»Wir müssen herausfinden, was und wo dieser Schlüssel ist, um ihn in
Sicherheit zu bringen.«
A ls Madame Guimards
vorsintflutliches Wählscheibentelefon klingelte, wusste Sophie bereits, wer
anrief, bevor die alte Dame ihr den Hörer reichte. Sogleich sprudelte aus ihrer
Mutter die ganze Geschichte, wie ihr Vater viel zu schnell gefahren sei und der
andere Fahrer völlig unerwartet die Spur gewechselt habe, wie der Reisebus
deshalb plötzlich im Weg gewesen und ein wilder Schlenker auf den Standstreifen
notwendig geworden sei, sodass sie fast einen Herzinfarkt erlitten hätte.
Obwohl Sophie darauf vorbereitet gewesen war, wühlten sie die neu
durchlebte Angst und die Aufregung in der Stimme ihrer Mutter auf. Sie ließ die
Worte zwar wie einen Regenguss über sich ergehen, doch innerlich erstarrte sie
bei der Vorstellung, was hätte geschehen können. Wie betäubt legte sie
schließlich auf. Kafziel hatte recht behalten. Sie hatte es nicht wirklich geglaubt – nicht aus tiefstem Herzen. Nun musste sie. Die
Fakten ließen nichts anderes zu, und sie konnte sich nicht einmal genau an die
verworrene Antwort erinnern, die Rafe ihr gegeben hatte.
Still zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Die Verantwortung für die
Leben aller, die sie
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