Der Kuss des Jägers
solches Urteil sofort Berufung eingelegt hätte. Dafür
würde ein wutschnaubender Gournay schon sorgen.
»Du hast recht. Es gibt keinen legalen Weg, wie ich dir die baldige
Freiheit verschaffen kann. Ich habe mich der Polizei gestellt und dich mit
meinen Aussagen so gut entlastet, wie ich konnte. Aber wenn du diesen Weg
wählst, wird es dir trotzdem nur einige Monate weniger Haft erkaufen. Ich
vermag die Zukunft nicht zu sehen, doch vielleicht wird man meine Aussagen
sogar anzweifeln, weil ich nicht lange im Gefängnis bleiben und sie vor Gericht
bekräftigen kann.«
Jean kam vor Überraschung kaum mit. Raphael hatte sich für ihn
verhaften lassen und zu seinen Gunsten ausgesagt? Und dann würde er auf
wundersame Weise wieder aus dem Knast verschwinden. Für einen Engel war die
Welt wirklich einfach.
»Ich biete dir dieselbe Möglichkeit an. Wenn es das ist, was du
wirklich willst – eingedenk aller Konsequenzen! –, dann verhelfe ich dir zur
Flucht.«
A lexandre Delamair sah bleich
und kränklich aus, als hätte er auch die vergangenen drei Nächte kaum
geschlafen. Selbst jetzt an der Kasse des L’Occultisme hing er mit der Nase über einem aufgeschlagenen Buch, sah widerwillig auf und
dann wieder auf das Buch, bis offenbar in seinem Verstand angekommen war, wer gerade den Laden betreten hatte. Rasch richtete er sich
auf und die Augen wieder auf sie. »Oh, du schon wieder. Salut! Bist du mit dem
Petersdorff durch?«
Kunststück! Ich hab ja auch gestern fast den
ganzen Tag gelesen und darauf gewartet, dass sich Gournay meldet, weil Rafe
sich gestellt hat. Was denkbar sinnlos gewesen war, wie sie mittlerweile
eingesehen hatte. Warum sollte der Commissaire sie deshalb anrufen? Aus seiner
Sicht ging es sie wenig an, auch wenn sie die Geliebte dieses Raphaël war, und
er hatte mit der Vernehmung weitaus Wichtigeres zu tun, als ihr den neuesten
Stand der Ermittlungen zu verraten.
»Ja, ich hab mich durchgequält, aber …« Unwillkürlich sah sie über
die Schulter zur Tür und ärgerte sich sogleich über sich selbst. »Jeden Moment
wird irgendein Spitzel von der B. C. hier
reinkommen. Wir dürfen keinen Verdacht erregen! Die haben mich schon nach dem
letzten Besuch gelöchert, was ich mit dir im Hinterzimmer wollte.«
Alex’ blasse Wangen röteten sich, und er grinste nervös. Als Sophie
begriff, spürte sie die Hitze in ihre eigenen Wangen steigen. »Nicht das, was
du denkst! Sie dachten, wir hätten heimlich mit jemandem telefoniert, weil …
Ach, vergiss es.« Sie hatte keine Lust, die Geschichte ihrer Entführung und der
folgenden Verwicklungen in Sachen Zeugenaussagen vor ihm auszubreiten, wenn
jeden Moment ein Ermittler hereinplatzen konnte.
»Ich versteh schon. Sie suchen Verbindungen, Hinweise, einen
Vorwand, um hier herumzuschnüffeln, ob wir doch mehr über Jean wissen, als wir
zugeben.«
»Genau. Und deshalb können wir nicht …« Sie brach ab, als sich
hinter ihr die Tür öffnete.
»Ich bedaure, Mademoiselle Bachmann, aber dieses Buch ist beim
Verlag nicht mehr lieferbar«, sagte Alex in unverbindlichem Tonfall. »Die
einzige Möglichkeit wäre, es gebraucht zu beschaffen, falls Sie interessiert
sind.«
»Äh.« Welche Antwort mochte er erwarten? »Ja, doch. Ich möchte es
eigentlich unbedingt haben, wenn es irgendwie geht. Oder können Sie mir etwas
Vergleichbares empfehlen?«
»Nein, das ist ein Standardwerk. Es gibt keinen anderen Autor, der
sich so intensiv mit dem Thema befasst hat. Kommen Sie bitte!« Er bedeutete
ihr, ihm zu folgen. »Wir sehen mal in den Antiquariatskatalogen nach, ob Ihnen
etwas zusagt.«
Wow. So viel Geistesgegenwart hatte sie
ihm nicht zugetraut. Ihm war zwar Schweiß auf die Stirn getreten, aber das
musste ihrem Verfolger nicht aufgefallen sein. Er ging voran durch das
Labyrinth der Regale, wo sie sich um eine Leiter herumschlängeln mussten, auf
der ein älterer Mann stand und Bücher einsortierte.
»Papa, kannst du die Kasse übernehmen?«, bat Alex.
Monsieur Delamair sah sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg forschend
an, bevor er wortlos nickte. In zwanzig Jahren mochte Alex aussehen wie eine
Kopie seines Vaters, denn ihm fehlten nur noch der sich lichtende Haaransatz
und ein paar Falten.
Auf den Tischen der Bibliothek stapelten sich noch mehr Bücher als
sonst, etliche davon aufgeschlagen, aber wenigstens lagen keine leeren Flaschen
und Pizzakartons mehr herum. Zum ersten Mal fand sie ein offenes Fenster vor,
weshalb die Luft nicht so
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