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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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macht, sondern warum er plötzlich weniger Zeit für
dich hat.«
    »Mhm.«
    Sie wird nicht fragen. Lara hatte immer zu
viel Angst, alles falsch zu machen.
    »Jetzt ist meine Mittagspause gleich vorbei, und ich hab nicht mal
gefragt, wie’s dir eigentlich geht. Dabei hast du
viel größere Probleme.«
    »Och, ich bin am Samstag bloß entführt worden und Raphaël will sich
der Polizei stellen, aber ansonsten ist alles bestens.« Am liebsten hätte sie
sich auf die Lippe gebissen. Es war nicht fair, Lara ein so schlechtes Gewissen
zu machen.
    » WAS ? Das ist ja alles schrecklich! Und
ich labere dich mit meinen kleinlichen Verdächtigungen voll.«
    »Nein, nein, ist schon gut! Es kann sich nicht immer alles um mich
drehen. Ich komm schon klar. Und ich drück dir fest die Daumen, dass mit Stefan
alles harmloser ist, als du glaubst.«
    »Ich fühl mich trotzdem wie die schlechteste Freundin der Welt. Aber
Frau Michels kommt vielleicht am Mittwoch wieder ins Büro. Dann könnte ich am
Donnerstag hier abhauen.«
    »Das wäre echt toll.«
    »Du, ich muss Schluss machen, aber ich ruf dich heute Abend noch mal
an. Pass auf dich auf!«
    Laras Abschiedsworte hallten in ihr nach, als sie den Weg nach Hause
einschlug. Zunächst verstand sie nicht, weshalb ihr der Satz so nachging. Es
war nur eine Floskel, auch wenn sich ihre Freundin tatsächlich um sie sorgte.
Doch dann dämmerte es ihr. Rafe ließ sich von der B. C. einsperren. Sie würden ihn ausgiebig verhören, und das nicht nur einmal. Selbst
wenn er in der Zelle war, würden Wachleute und andere Häftlinge rund um die Uhr
in seiner Nähe sein. Engel oder nicht – solange er unerkannt bleiben wollte,
konnte er nicht einfach kommen und gehen, wie es ihm gerade einfiel. Egal, was
geschah, sie war jetzt auf sich gestellt.

    Der Vollmond leuchtete so hell durch das Fenster, dass die
Möbel tiefschwarze Schatten warfen. Im Haus war es still, still wie der Tod.
Jean wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Die Zikaden im Garten, die
Mäuse auf dem Dachboden, die Deckenbalken und Dielen, die sonst knackten und
knallten, wenn die Hitze nachließ, alle hielten den Atem an. Er konnte das Böse
spüren. Es war ganz in der Nähe. Nicht in seinem Zimmer, aber im Haus. Dunkel
und bedrohlich hing es über ihm. Er wusste es so sicher, wie er sein Herz an
die Rippen klopfen fühlte.
    Sein Atem stieg als Reifwolke auf, mitten im Sommer, und doch dachte
er sich nichts dabei. Seine Gedanken standen so still wie das Haus. Fröstelnd
schlug er die Decke zurück und setzte sich auf. Wie ein Schlafwandler stellte
er die nackten Füße auf die abgenutzten Dielen, die keinen Laut von sich gaben,
als er sich erhob. Nicht einmal die Tür knarrte. Auch auf dem Flur rührte sich
nichts. Ein weißliches Viereck, das sich auf dem Boden wiederholte, verriet,
dass die Tür seiner Schwester offen stand. Ohne hineinzusehen, wusste er, dass
sie fort war. Sie war nicht mehr hier . Niemand befand sich mehr hier außer ihm – und dem Tod.
    Wie an einer Schnur gezogen, ging er den Flur entlang. Ob er die
Füße auf Dielen oder Läufer setzte, alles war kalt. Er spürte das Böse in den
Ecken lauern, bereit, sich auf ihn zu stürzen und in ihn zu fahren, sobald er
die kleinste Schwäche zeigte. Es war stark. Stärker als je zuvor. Selbst in
jenen Momenten, da der Wahnsinn in Marie-Claires Augen gelodert hatte, wenn sie
getobt und geschrien und den Priester verflucht hatte, selbst dann war es nicht
so mächtig gewesen wie jetzt. Es hatte geerntet und gierte nach mehr.
    Die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern war geschlossen. So massiv
ballte sich das Böse dahinter, dass ihm das Holz zugleich lächerlich dünn und
wie eine steinerne Mauer erschien. Und doch musste er hindurch, musste den
Ursprung des Grauens sehen, das seine Gedanken lähmte. Langsam drückte er die
eisig kalte Klinke hinab, öffnete die Tür, trat ein. Der Boden fühlte sich mit
einem Mal klebrig und warm an. Er sah hinunter.
    Auf Marie-Claires hellem Nachthemd prangten dunkle Flecken, die das
Licht aufsaugten. Sie lag auf dem Bauch. Im Zwielicht verschmolzen die Strähnen
ihres langen Haars mit den seltsam dunklen Dielen. Die Finger umklammerten
etwas Glänzendes.
    Er tappte um sie herum zum Bett. Keine kratzige Wolldecke in der
lauen Sommernacht, nur ein weißes Laken, zerfetzt und von denselben lichtfressenden
Flecken bedeckt. Zwei Körper zeichneten sich darunter ab. Hier ragte ein Bein
hervor, dort ein Arm und ein Kopf. Der schwarze

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