Der Kuss des Jägers
identisch.
Das ist Wahnsinn. Sophie
schüttelte den Kopf, wofür sie einen neugierigen Blick eines Mannes am
Nebentisch erntete. Der war dann vermutlich kein Polizist, denn die Leute, die
sie beschatteten, taten sicher besonders desinteressiert. Verstohlen ließ sie
den Blick über die anderen Gäste schweifen, die unter der braunen Markise des Le Lutétia an kleinen Cafétischen saßen und der schwülen
Hitze mit einem sündhaft teuren Eis von Berthillon trotzten. Es roch nach
Kaffee und Früchten und einem Hauch Likör. Über den Türmen des Hôtels de Ville,
des alten Rathauses, das auf der anderen Seineseite über den Uferbäumen
aufragte, verhießen weiß-graue Wolkengebirge ein abkühlendes Gewitter. Sophie
fiel auf, dass mehr Touristen über die Pont Louis Philippe mit ihren weißen
Steingeländern flaniert kamen als noch zwei Wochen zuvor. Dennoch ging es auf
der Île Saint-Louis wie immer beschaulich zu. Nur selten rappelte ein Auto auf
der gepflasterten Straße vorüber.
Wer von den Menschen um sie herum mochte ihr Verfolger sein?
Vielleicht die blonde Frau, die so auffällig lange die Auslagen in den
Schaufenstern der Buchhandlung gegenüber betrachtete? Oder der Straßenfeger in
der neongelben Warnweste, der den Rinnstein vor dem Café kehrte? Wenn man
Gournay bereits darüber informiert hatte, dass Jean geflohen war – und sie
hatte keinen Grund anzunehmen, dass er es nicht als Erster erfuhr –, dann wurde
sie nun garantiert noch schärfer beobachtet als zuvor. Sie hatte ihm eine
eindringliche Warnung geschickt, doch keine Antwort mehr erhalten. Sich
ausgerechnet in seiner Wohnung treffen zu wollen, war das Ungeschickteste, das
sie sich vorstellen konnte. Es lag auf der Hand, dass die Polizei nach einer
Flucht gerade jene Orte überwachte, an die es ihn wahrscheinlich am meisten
zog. Auch Alex hielt die Idee für völligen Irrsinn und hatte Jean per SMS angeboten, ihm von dort zu besorgen, was auch immer
er brauchen mochte. Selbst das war im Grunde ein zu hohes Risiko, aber immer
noch besser, als wenn er selbst hinging. Doch auch Alex hatte keine Antwort
bekommen, sonst hätte er sich sofort bei ihr gemeldet.
Sophie versuchte, so unauffällig wie möglich auf die Uhr zu sehen.
Die Ermittler sollten nicht merken, dass sie eine Verabredung hatte. Früher
oder später würden sie erkennen, wo sie sich
hinbegab, doch dann konnten sie immer noch glauben, sie wolle nur etwas holen.
Es wurde Zeit zu gehen. Sie bat den Kellner um die Rechnung und
zahlte. Niemand schien davon Notiz zu nehmen, als sie aufbrach, doch sie wusste
es besser. Ohne sich umzusehen, bog sie in die Rue Saint-Louis en l’Île mit
ihren vielen winzig kleinen Läden ab. Den ganzen Weg bis zu dem unscheinbaren
Tor malte sie sich aus, wie die B. C. Jean bereits
erwartete und festnahm oder wie sie ihn in Handschellen an ihr vorbeiführen
würden, sobald sie den Hof betrat. Warum musste es ausgerechnet seine Wohnung
sein? Die Frage ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht lockte Kafziel
sie in einen Hinterhalt, aber da sie nicht sicher war, musste sie es darauf
ankommen lassen.
Doch vor dem Tor stand weder ein Aufgebot an Einsatzkräften noch
eine Armada von blau-weißen Autos und Motorrädern, sondern lediglich ein
Pritschenwagen, auf dessen Ladefläche allerhand Werkzeug, Koffer und Kartons
herumlagen. Der Handwerker, der sich am Tor zu schaffen machte, war offenbar
dabei, eine der modernen Sicherheitsanlagen einzubauen, wie Sophie sie bereits
an vielen Pariser Hauseingängen gesehen hatte. Ob Jean davon wusste? Denn
sobald eine solche Anlage in Betrieb ging, konnte die dazugehörige Tür nur noch
mit einem Code geöffnet werden, den man auf einem Tastenfeld eintippte.
»Bonjour«, grüßte sie lächelnd und ging so zielstrebig durch das
Tor, dass dem Mann hoffentlich nichts darüber einfiel. So einfach würde sie es
also von nun an nie wieder haben, auf den Innenhof des alten Gebäudes zu
kommen. Hatte sich Jean vielleicht deshalb diesen waghalsigen Plan ausgedacht?
Weil sie das Schreiben der Hausverwaltung mit dem Zugangscode holen mussten,
bevor er nicht mehr in seine eigene Wohnung kam?
An jeder passenden Stelle – sei es hinter der Eingangstür oder auf
einem der Treppenabsätze – erwartete sie, von Gonod oder einem anderen
Brigadier aufgehalten zu werden, doch ihr begegnete nur eine sehr junge Frau,
die die Treppen heruntergepoltert kam und im Vorübereilen ein fröhliches
»Salut!« rief. Wenn das Haus tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher