Der Kuss des Jägers
frei!«
»Was willst du tun? Mich mit dem Kreuz verprügeln? Mach dich nicht
lächerlich, Mädchen.«
Eine seltsame Ruhe überkam Sophie. Was sie gelesen hatte, half ihr,
endlich zu verstehen. »Du hast nur Macht über jene, die sie dir geben. Ich
entziehe sie dir. Verschwinde!«
»Wirklich gut«, lachte der Dämon, nur um sogleich wieder sein
Raubtierlächeln aufzusetzen. »Aber ich glaube dir nicht. Du glaubst selbst
nicht, was du da sagst. Du hast Angst. Und du bist
verzweifelt. Das ist es, was mir Macht über dich verleiht.«
Sie zuckte zurück, als die Hand mit dem Messer vorschnellte. Eine
Ecke des Zettels fiel kreiselnd zu Boden. Er kann mir nichts
tun. Mit der Linken riss sie das Blatt aus der Rechten, die sie Kafziel
erneut mit dem Kreuz entgegenstreckte. Sie sah ihn nicht mehr an, richtete die
Augen starr auf Jeans Schrift. »Exi ergo, impie, exi, scelerate, exi cum omni
fallacia tua …«, las sie, ohne ein Wort zu verstehen, doch sie glaubte, glaubte
an Jean und daran, dass er wusste, was das Richtige war. »Sed quid diutius
moraris hic? Da honorem Deo Patri omnipotenti …«
Der Dämon fauchte und knurrte.
Sie unterdrückte den Drang aufzublicken, las weiter. »Da locum
Domino Iesu Christo, qui pro homine sanguinem suum sacratissimum fudit. Da
locum Spiritui Sancto …«
Die schrecklichen Laute zerrten an ihr. Sie ahnte mehr, als dass sie
sah, wie Kafziels Gestalt flackerte, doch sie blickte nicht auf. Fast schien es
ihr, als sei alles an ihr gelähmt bis auf ihre Zunge. »…qui te in mago Elyma
per Apostolum suum Paulum caecitatis caligine perdidit …«
Blitzend fuhr die Klinge durch die Luft. Sie sah es aus dem
Augenwinkel, war aber zu erstarrt, um auch nur zu zucken. Es war, als streife
ein kalter Hauch ihren Arm. Mehr spürte sie nicht. »… Discede ergo nunc,
discede, seductor. Tibi eremus …«
Der Dämon heulte zornig auf. Sein Umriss schwoll an und ab.
Gliedmaßen schlugen wütend um sich.
»… humiliare et prosternere. Iam non est differende tempus. Amen.«
Es gab einen Knall, so laut, dass er Sophie durch Mark und Bein
fuhr. Sie sah auf. Rauch schwelte an einer Stelle des Türrahmens. Kafziel war
fort. Im Flur ertönte ein Krachen, dann schlug eine Tür gegen eine Wand.
»Polizei! Werfen Sie die Waffe weg und kommen Sie mit erhobenen
Händen raus!«
W ie haben Sie das gemacht?«
Ungläubig betrachtete Capitaine Lacour den Türrahmen. Das abkühlende Holz
knisterte noch immer, wenn auch mittlerweile fast unhörbar. Im Schlafzimmer,
dessen Fenster und Läden Gonod gerade öffnete, um den Rauch abziehen zu lassen,
roch es nach erloschenem Lagerfeuer und einem Hauch Schwefel. Die Polizistin in
Zivil, die Sophie beschattet hatte und nach dem Knall in die Wohnung geeilt
war, schüttelte fassungslos den Kopf. Auch im hellen Sonnenlicht, das nun
hereinfiel, war nicht mehr zu erkennen als der Abdruck einer Hand – eingetieft,
als hätte der Dämon die Finger in nassen Gips gelegt, an den Rändern verkohlt
wie von einem Brandeisen.
»Das war ich nicht«, wiederholte Sophie, was sie bereits Lacours
Kollegin versichert hatte, bevor er eingetroffen war. »Wie sollte ich denn so
etwas bewerkstelligen?« Sie konnte den Blick kaum von dem seltsamen Mal lösen.
Im Buch von Petersdorff hatte sie zwei Schwarz-Weiß-Aufnahmen ähnlicher
Abdrücke gesehen, die im Detail voneinander abwichen, und auch Kafziels
unterschied sich von ihnen durch das verkohlte Holz. Das wirklich Merkwürdige
war jedoch nicht, dass die Hand eine ungewöhnliche Anatomie aufwies – der
Daumen war zu lang und zu weit oben angesetzt –, sondern wie es Kafziel
überhaupt gelungen war, die Finger ins Holz zu pressen. Aus Erfahrung wusste
sie, dass selbst ein Schlag mit einem Hammer kaum mehr als eine flache Delle
hinterließ. Falls sie noch einen Beweis für die Kräfte des Dämons gebraucht
hätte, wäre kaum ein besserer denkbar gewesen. Bei dem Gedanken, dass sie
dieser Macht so furchtlos getrotzt hatte, wurde ihr übel. Rasch wandte sie sich
ab.
»Es muss irgendwie mit Sprengstoff gemacht worden sein, sonst hätte
ich keine Detonation gehört«, vermutete die Ermittlerin.
»Sprengstoff? So präzise?«, zweifelte Gonod.
»Und wer würde einen solchen Aufwand betreiben, um jemanden zu
erschrecken? Falls das der Sinn der Sache war«, fügte
Lacour mit einem Seitenblick auf Sophie hinzu. »Wie dem auch sei – ein Fall für
die Spurensicherung. Fordern Sie ein Team an, Gonod! Ich will wissen, wer sich
mit
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