Der Kuss des Jägers
Jean war oft genug durch die nächtliche Stadt gestreift,
um zu wissen, dass jeder einigermaßen einladende Schlafplatz heiß begehrt und
umkämpft war. Es gab zu viele Obdachlose in Paris. Etliche schliefen auf
blankem Asphalt, Glücklichere verkrochen sich unter Sträuchern. Das kann mir auch noch blühen, fürchtete er, doch er wollte
nicht zu weit vorausschauen. Für den Augenblick hatte er ein Dach über dem Kopf
und – dem laternenverfälschten Dämmerlicht vor den Fenstern nach zu urteilen –
noch ein paar Stunden Zeit, bevor Monsieur Delamair auftauchen und ihn
höchstwahrscheinlich rauswerfen würde.
Übermüdet schloss er die Augen. Verglichen mit dem Gefängnis war es
hier gespenstisch still. Er konnte es noch nicht ganz glauben, dass er
tatsächlich durch alle Sicherheitsvorkehrungen spaziert war, als gingen sie ihn
nichts an. Den misstrauischen Pförtner hatten schon bald seine Freunde
abgelenkt, und am nächtlichen Haupteingang war er sogar noch in einen kurzen
Wortwechsel über eine Prügelei verwickelt worden, die sich am Vortag auf dem
Hof ereignet hatte. Bis zu ihm in die Isolationshaft war diese Nachricht zwar
nicht vorgedrungen, doch für einen oberflächlichen Kommentar hatte er zum Glück
keine Details wissen müssen. Sobald die Überwachungsbänder ausgewertet waren,
würden einige Leute gewaltigen Ärger bekommen …
»Jean!«
Überrascht riss er die Augen auf. Durch die Jalousien fiel taghelles
Licht in den Raum. Wenn er nicht bald wieder eingefangen werden wollte, musste
er sich dringend einen leichteren Schlaf angewöhnen.
»Bist du verletzt?« Alex legte seine Laptop-Tasche hastig auf dem
erstbesten Tisch ab und eilte zu ihm.
Abwehrend wedelte Jean mit den Händen, während er sich aufsetzte.
»Nein, alles okay. Nur ein bisschen gerädert. Der Boden ist verdammt hart.«
Sein Freund reichte ihm eine Hand, um ihm aufzuhelfen. »Mann, du
Teufelskerl! Wie bist du hier reingekommen? Warst du wirklich in deiner
Wohnung? Ich hab von Sophie nichts mehr gehört.«
»In meiner Wohnung?«, wunderte er sich beim Aufstehen. »Ich bin doch
nicht bescheuert. Dort suchen sie mich doch als Erstes.«
»Das haben wir auch gedacht, als deine Nachricht kam.«
»Eine Nachricht? Von mir?«
»Na, die SMS , dass du Sophie in deiner
Wohnung treffen willst.«
»Aber ich hab doch gar keine …« Er verstummte über den schlimmen
Befürchtungen, die seine Phantasie sofort ausmalte.
»Die war nicht von dir?«, begriff auch Alex endlich. »Aber sie kam
von derselben Nummer, von der aus du mich angerufen
hattest.«
Von einem Handy, das zertreten und womöglich eine Toilette
hinuntergespült worden war? Und selbst wenn es Driss gelungen wäre, die SIM -Karte zu retten, hätte niemand im Gefängnis überhaupt
gewusst, dass es Sophie gab. Das ließ nur einen Schluss zu. »Merde! Sie ist
hingegangen und hat sich nicht mehr gemeldet?« Er eilte zur Tür.
»Jean, bleib hier! Wenn du in diesem Aufzug auf die Straße rennst,
haben sie dich sofort! Dann kannst du ihr erst recht nicht mehr helfen.«
Verdammt! Er hielt inne und schlug mit
zusammengebissenen Zähnen die Faust gegen den Türrahmen. »Warum musst du immer
recht haben?«
»Hab ich das? Na ja, jedenfalls hat sie nicht mit mir vereinbart,
sich noch mal zu melden, also muss das nichts heißen.«
»Aber die Nachricht kann nur von diesem verfluchten Dämon gekommen
sein!«
In Alex’ Miene spiegelte sich Besorgnis. »Dämonen, die SMS verschicken, klingen irgendwie seltsam, aber in
diesem Fall logisch. Soll ich sie anrufen?«
»Fängst du jetzt auch schon an, alle unsere Sicherheitsregeln über
Bord zu werfen? Wenn die Polizei das mithört, bist du geliefert.«
»Glaubst du, dass sie mein Handy angezapft
haben? Das ist eine unregistrierte Karte.«
»Stell dich nicht dumm! Sie hören Sophie ab. Für die Flics geht es
schließlich um Mordverdacht.«
Alex wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn.
»Natürlich! Ich … ich muss erst mal wieder runterkommen. Du machst mich ganz
hektisch. Das alles macht mich hektisch. Was glaubst
du, was mein Vater mir erzählt, wenn er dich hier findet?«
»Tut mir leid. Ich will nicht lange bleiben. Das wäre auch nicht
sicher genug. Aber jetzt will ich als Erstes wissen, was mit Sophie passiert
ist.«
»Was heißt, du willst nicht lange bleiben? Wo willst du denn hin?
Und in diesen Klamotten kommst du sowieso nicht weit. Kein normaler – wie nennt
sich das? – Strafvollzugsbeamter läuft in seiner
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